Ankara betrachtet das visumfreie Reisen türkischer Staatsbürger als wichtigsten Teil des Aktionsplans mit der EU, doch Brüssel will noch keine verbindliche Zusage machen.
Istanbul. Die Maschinen stehen schon bereit: In Erwartung des visumfreien Reiseverkehrs mit der EU hat die türkische Regierung mit den Vorbereitungen für die Ausgabe neuer biometrischer Pässe begonnen. Im Dezember hatte sich eine türkische Regierungsdelegation in Brüssel über die technischen Anforderungen an die neuen Pässe informiert. Gleichzeitig verkündete Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu, ab Oktober 2016 könnten Türken ohne Visum nach Europa reisen. In den kommenden Wochen sollen die ersten EU-konformen Pässe mit gespeicherten Fingerabdrücken an die Bürger ausgegeben werden.
Das Thema Visumfreiheit ist aus Sicht der Türkei der wichtigste Aspekt der Zusammenarbeit zwischen Ankara und Brüssel bei der Bekämpfung der Flüchtlingskrise. Davutoğlu besteht darauf, dass die Visumschranken mit dem Schengen–Raum fallen und macht davon die Umsetzung des sogenannten Rückübernahmeabkommens mit der EU abhängig. Die Abmachung sieht vor, dass die Türkei abgelehnte Asylbewerber zurücknimmt, die über ihr Territorium nach Europa gelangt sind. Für die Europäer ist der Vertrag besonders wichtig, weil er bekanntlich die Rückführung von potenziell Hunderttausenden Flüchtlingen aus der EU in die Türkei ermöglichen soll.
Hinter dem türkischen Drängen nach Visumfreiheit stehen praktische und politische Überlegungen. Viele Türken klagen seit Jahren über die langwierigen, teuren und teils als demütigend empfundenen Visumverfahren der EU-Staaten. Jeder Türke kennt Geschichten von Reiseanträgen, die ohne erkennbaren Grund von den europäischen Konsulaten verschleppt oder abgelehnt wurden. Wer außerhalb der Metropolen wohnt, muss für ein Visum lange Reisen zu den zuständigen Konsulaten oder Botschaften auf sich nehmen – ohne Erfolgsgarantie.
Deutschland mit seinen drei Millionen türkischstämmigen Bewohnern ist besonders betroffen: Verwandtenbesuche müssen über Monate vorbereitet werden oder kommen überhaupt nicht zustande. Mehr als 170.000 Visa stellen deutsche Vertretungen in der Türkei jährlich aus, viele Antragsteller sehen die Verfahren als Schikane.
Angesichts der Beschwerden liegt es auf der Hand, warum sich Davutoğlu so sehr für die Aufhebung der Visumpflicht einsetzt: Ein solcher Schritt wäre für viele türkische Wähler ein wichtiger Durchbruch. Daneben gibt es grundsätzlichere psychologisch-politische Motive. Die Reisefreiheit in Europa würde von der Türkei als eine Art Ritterschlag empfunden, als Zeichen der Anerkennung für ein Land, das von den Europäern nicht mehr als Bittsteller, sondern als gleichberechtigter Partner angesehen würde. Allerdings sind die Europäer von der Idee der Visumfreiheit weniger begeistert als die Türken. So warnte der Vizepräsident des deutschen Bundestages, CSU-Politiker Johannes Singhammer, ein Ende der Visumpflicht für Türken könnte zu einem Einfallstor für einen „nicht kalkulierbaren Zuzug“ von Ausländern werden.
Streit ist programmiert
Brüssel verweist zudem auf die vielen technischen Voraussetzungen sowie auf flüchtlingspolitische Weiterungen. Wenn die EU beginnt, Flüchtlinge in die Türkei zu schicken, dann muss die Türkei für die Menschen sorgen oder sie in ihre Heimatländer zurückbringen. Dafür sind Rückübernahmeabkommen zwischen der Türkei und den betroffenen Ländern nötig. Angaben aus Ankara zufolge soll ein Abkommen mit Afghanistan bald umgesetzt werden. Ob das die Europäer überzeugt, bleibt abzuwarten. Eine verbindliche Zusage der EU über den Beginn der Visumfreiheit noch heuer hat die Türkei bisher nicht erhalten. Diplomaten in Ankara erwarten für die kommenden Monate Streit: Die Enttäuschung sei programmiert.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.03.2016)