Ankara bremst hohe Erwartungen aus Brüssel

Handout photo of Turkish Prime Minister Davutoglu meeting with European Council President Tusk in Ankara
Handout photo of Turkish Prime Minister Davutoglu meeting with European Council President Tusk in Ankara(c) REUTERS (HANDOUT)
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Der Flüchtlingsstrom könne nicht über Nacht eingedämmt werden, betont die Türkei. Doch die EU will kurz vor dem Treffen am Montag Ergebnisse sehen.

Istanbul/Athen/Brüssel. Der Druck auf Ankara wächst: Wenige Tage vor dem Sondergipfel zur Flüchtlingsfrage am kommenden Montag steht die Türkei unter Zugzwang, die Abwanderung von Hunderttausenden Menschen über türkisches Territorium nach Europa zu bremsen. EU-Ratspräsident Donald Tusk traf zu Beginn eines zweitägigen Besuchs in der Türkei am gestrigen Donnerstag mit Ministerpräsident Ahmet Davutoğlu zusammen – und nützte die Gelegenheit, Ankara zu verstärkten Anstrengungen in der Flüchtlingsfrage aufzurufen. Illegale Migranten zurück in die Türkei zu schicken würde das Geschäft der Schmuggler zerstören, so Tusk. Die Türken müssten aber selbst entscheiden, wie sie den Flüchtlingsstrom stoppen, betonte er. Der niederländische Premier, Mark Rutte, forderte gestern gar in einem Interview, die Zahl der aus der Türkei kommenden Migranten müsse „gegen null“ sinken. Die türkische Regierung wiederum argumentiert, sie unternehme alles, um den Strom zu bremsen. „Wir haben keinen Zauberstab“, sagte ein hochrangiger türkischer Regierungsvertreter wenige Stunden vor Tusks Ankunft vor Journalisten in Istanbul. Er verwies darauf, dass das Innenministerium bereits eine aus 3000 Polizisten bestehende Sonderabteilung zur Bekämpfung des Menschenschmuggels gebildet habe. Seit Jahresbeginn haben die türkischen Behörden nach eigenen Angaben mehr als 24.000 Flüchtlinge an der Überfahrt nach Griechenland gehindert. Laut Berichten aus Athen sind trotzdem im selben Zeitraum rund 120.000 Menschen von der Türkei nach Griechenland gelangt.

Die EU will erreichen, dass die Türkei die Seegrenze mit Griechenland besser überwacht, wie sie das im Rahmen des Aktionsplans mit Brüssel im November zugesagt hat. Im Gegenzug erwartet die Türkei drei Milliarden Euro für Hilfsprojekte, die vor allem den inzwischen 2,7 Millionen Syrern im Land eine Perspektive bieten sollen, sowie Fortschritte bei den EU-Beitrittsgesprächen und Visafreiheit für türkische Reisende in der EU. Auch darüber müsse beim Gipfel am Montag geredet werden, sagte der türkische Regierungsvertreter. Doch die Türkei demonstriert nun auch ihre Entschlossenheit, zugesagte Verpflichtungen einzuhalten. Ab Juni soll das Land abgelehnte Asylbewerber zurücknehmen, die über sein Territorium in die EU gelangt sind.

Derzeit arbeitet Ankara an Rückführungsabkommen mit 14 Herkunftsländern der Flüchtlinge, um die aus Europa erwarteten Menschen weiterschicken zu können. Für die Türkei wird das Thema Rückführung immer wichtiger. Denn inzwischen stellen die Syrer, die als Bürgerkriegsflüchtlinge fest mit einem Asylstatus in Europa rechnen können, weniger als die Hälfte der Flüchtlinge, die über die Türkei nach Griechenland reisen. Von 120.000 Neuankömmlingen stammten 56.000 aus Syrien, 32.000 aus Afganistan, 20.000 aus dem Irak und jeweils rund 3700 aus dem Iran und aus Pakistan.

Verschärfte Einreisebestimmungen

Ankara verweist auch auf verschärfte Einreisebestimmungen für einige wichtige Herkunftsländer der Flüchtlinge, wie Irak und Libyen. Zudem funktioniere die Rückführung von Flüchtlingen aus Griechenland in die Türkei erstmals in einem größeren Rahmen. Rund 300 Flüchtlinge aus Nordafrika sollen dieser Tage aus Griechenland in die Türkei gebracht werden – das sind mehr als in den vergangenen vier Jahren zusammen. Allerdings fallen ein paar Hundert Rückführungen angesichts des Flüchtlingsstroms in die andere Richtung kaum ins Gewicht. Nach wie vor setzen jeden Tag rund 2000 Flüchtlinge mit Booten von der Türkei nach Griechenland über. Kritiker fragen, warum Ankara nicht mehr gegen die Massenabwanderung tut. Die griechische Regierung wirft den türkischen Behörden sogar eine Zusammenarbeit mit den Schmugglerbanden vor.

Ankara weist das zurück. Dennoch verzögert sich derzeit die vereinbarte Nato-Mission gegen Schlepperbanden in der Ägäis (siehe Seite 1). „Die Türkei will diesen Flüchtlingsstrom wirklich stoppen“, sagte der türkische Regierungsvertreter. Doch es handele sich eben um eine schwierige Aufgabe. Europa erwarte Ergebnisse über Nacht. Aber: „Das wird nicht geschehen.“ Die Absprachen für den Nato-Einsatz sind schwierig, weil der genaue Verlauf der Seegrenze zwischen Griechenland und der Türkei in der Ägäis nicht festgelegt ist und beide Staaten befürchten, der jeweils andere könnte territoriale Ansprüche entwickeln.

„Kommen Sie nicht nach Europa“

Am Tag nach dem Sondergipfel wollen Davutoğlu und der griechische Premier, Alexis Tsipras, nun in bilateralen Gesprächen über eine engere Zusammenarbeit in der Flüchtlingskrise beraten. Schon am gestrigen Donnerstag war Tusk – noch bevor er in die Türkei reiste – bei Tsipras zu Gast. Im Anschluss an das Treffen hat der Ratspräsident einen Appell an jene Migranten gerichtet, die eine Überfahrt nach Europa geplant haben: „Kommen Sie nicht nach Europa. Glauben Sie nicht den Schmugglern. Riskieren Sie Ihr Leben und Ihr Geld nicht“, mahnte der Pole.

Tusk ließ es sich aber auch nicht nehmen, das österreichische Vorgehen in der Flüchtlingskrise zu kritisieren: „Unilaterale Entscheidungen“, sagte er, „stehen im Widerspruch zum Geist der europäischen Solidarität.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2016)

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