Flüchtlingskrise: Unsicherer Partner Türkei

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Dass es kaum Fortschritte gibt, liegt auch an der Interessenlage: Die EU will weniger Grenzübertritte, Staatschef Erdoğan mehr Macht.

Brüssel. Es ist ein wenig wie mit der Henne und dem Ei: Bevor die EU der Türkei mit Visumerleichterungen und finanziellen Zugeständnissen entgegenkommt, will sie substanzielle Fortschritte bei der Eindämmung der Flüchtlingsströme Richtung Europa sehen. Die Türken wiederum pochen auf ebenso substanzielle Vorleistungen der Union, bevor sie den Kampf gegen Schlepper in der Ägäis ernsthaft aufnehmen. An diesem grundsätzlichen Dilemma hat sich seit dem ersten türkisch-europäischen Gipfeltreffen im Zeichen der Flüchtlingskrise vor einem knappen halben Jahr nicht wirklich etwas geändert. Und deswegen dürfte auch der Sondergipfel in Brüssel am kommenden Montag, der in manchen EU-Hauptstädten zum Tag der Entscheidung hochstilisiert wurde, keine Trendwende bringen.

Die Pattsituation wird verständlicher, sobald man sich auf die Suche nach den Beweggründen der Verhandlungspartner begibt. Das übergeordnete Ziel der Europäer – der EU-Kommission und Angela Merkels, der Skeptiker in Osteuropa und der unmittelbar betroffenen Südeuropäer, Frankreichs und der Skandinavier – ist die Reduktion der Flüchtlingszahlen auf ein humanitär gerade noch verträgliches Minimum. Der türkische Machthaber Recep Tayyip Erdoğan indes verfolgt nach Ansicht von Naz Masraff von der Ideenschmiede Eurasia Group zwei gänzlich andere Ziele: erstens die Einrichtung einer Präsidialrepublik mit ihm an der Spitze und zweitens die Pazifizierung der Kurden. Bei der Erreichung dieser Vorhaben sind die Flüchtlinge ein Mittel zum Zweck.

Für die Staatsreform braucht Erdoğan das Wohlwollen der türkischen Wähler, weshalb seine wichtigste Forderung die Visumfreiheit für Türken ist. Die EU-Mittel für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei – Ankara wünscht sich drei Mrd. Euro pro Jahr – würden wiederum das türkische Budget entlasten. Zugleich aber muss der Staatschef darauf achten, dass die geschätzten zwei Millionen Syrer in der Türkei von der eigenen Bevölkerung nicht als Bedrohung empfunden werden – aus dieser Perspektive betrachtet, erscheint ihre Weiterreise nach Europa erstens als nützliches Sicherheitsventil nach innen und zweitens als wirkungsvolle Drohgebärde nach außen. Man könne die Schutzbedürftigen gleich in Bussen an die griechische und bulgarische Grenze karren, sollte sich die Union nicht noch großzügiger zeigen, warnte Erdoğan im vergangenen November EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und Ratspräsidenten Donald Tusk am Rand des G20-Gipfels in Antalya.

Heute, Freitag, wird Tusk seine viertägige Balkantournee in Istanbul beenden, wo er mit Erdoğan den Frontverlauf klären will. Aus der Sicht der Europäer schweben über einem Deal mit der Türkei mindestens drei Fragezeichen. Zunächst einmal ist nicht klar, ob die Visumfreiheit innerhalb der Union mehrheitsfähig ist – Bedenken hat unter anderem Frankreich. Ein weiteres Problem ist die prekäre Lage in der Türkei selbst – Schikanen gegen regierungskritische Medien, der Umgang mit der kurdischen Minderheit, Erdoğans Rütteln am Prinzip der staatlichen Gewaltentrennung. Zudem stößt sich die EU an den geopolitischen Muskelspielen, die zuletzt in einem Konflikt mit Russland kulminierten. Und zu guter Letzt werden immer wieder Zweifel an der Sinnhaftigkeit der Kooperation laut. Österreichs Außenminister, Sebastian Kurz, wies in einem Interview mit der „Süddeutschen Zeitung“ darauf hin, dass es moralisch nicht hochwertiger sei, „wenn die Flüchtlinge in der Türkei aufgehalten werden, als wenn man sie in Griechenland oder in Mazedonien aufhält“.

Nato-Mission stockt

Dass der Umgang mit Ankara alles andere als einfach ist, beweist auch das Schicksal der Nato-Mission im Küstengebiet, die zwar von beiden Bündnispartnern beschlossen wurde, aber seit drei Wochen nicht vom Fleck kommt – und zwar, weil sich Ankara und Athen nicht über die maritimen Grenzverläufe einig sind, und auch die Frage, wohin die aufgebrachten Flüchtlinge gebracht werden sollen, bis dato nicht lückenlos beantwortet werden konnte.

Beim Treffen der EU-Innenminister vergangene Woche hat der deutsche Ressortchef Thomas de Maizière noch davon gesprochen, dass Deutschland bis zum kommenden Montag einen „drastischen und nachhaltigen“ Rückgang der Flüchtlingszahlen an der türkisch-griechischen Grenze erwarte. In den vergangenen Tagen wurden die in Berlin artikulierten Erwartungen an die Türkei indes immer weniger eindeutig. „Ich glaube, wir sind besser dabei, als manch einer denkt, aber dass noch eine Wegstrecke vor uns liegt“, sagte Merkel bei ihrem Auftritt in der ARD-Talkshow von Anne Will. Und sollte es am 7. März nicht klappen, gebe es beim nächsten planmäßigen EU-Gipfel am 17. März die nächste Chance.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2016)

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