Gasse im Gegenwind von San Michele

Isola di San Michele
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Durch Venedigs enge Calle del Fumo in Cannaregio weht so mancher Geist der Geschichte, er treibt neugierige Passanten zu Schneefall, gedoppelten Sohlen und Gutenberg. Nur der Zeitgeist fehlt.

Jedes Jahr im Dezember geht Schuster Mauro auf Urlaub. Zur Freude seiner Stammkunden, denn am letzten Arbeits tag, das ist Ehrensache, sind alle Sohlen gedoppelt und Gürtelschnallen gesetzt. Gutes Handwerk braucht seine Zeit – mit dieser Arbeitsmoral ist Mauros Werkstatt einer der wenigen Orte Venedigs, in denen fußmarode Touristen fehl am Platz sind: „Sie sind nur noch fünf Tage hier? Mi dispiace, leider, bis dahin kann ich den Absatz keinesfalls reparieren“, sagt der Meister ohne erkennbares Mitleid. Aber in die Calle del Fumo verirren sich ohnehin nicht viele Touristen, die Rauchgasse liegt im ruhigen Teil des Stadtviertels Cannaregio und gehört zu den engen Schlurfen der Serenissima, durch die keine Gruppe passt. Auf den ersten Blick hat sie wenig zu bieten: keine Tramezzini, keine Gondeln, keine Masken. Und kaum Sonne, selbst wenn sie scheint. Für die meisten Passanten ist sie nicht mehr als ein Durchgang, sie wollen, vom Zentrum kommend, nur möglichst rasch gegen den ewigen Wind das Licht am Ende dieses Tunnels, die Vaporetto-Station Fondamenta Nuove erreichen: Dort entfaltet sich dann an sonnigen Tagen ein Bilderbuchpanorama über die Lagune Richtung Friedhofsinsel San Michele bis zur Glasbläserwelt Murano.

Einer der kunstfertigsten Glasbläser Venedigs liegt allerdings in der Gegenrichtung, eben in der Calle del Fumo auf Nummer 5311. Der Blick durch das Schaufenster von Vittorio Costantini fällt auf eine Fabelwelt: bunte Vögel, Käfer, Korallen, Frösche, Schlangen und Spinnen in ihrem Netz, detailgetreue Kostbarkeiten aus Glas liegen in den Vitrinen des altmodischen Ladens. Vittorio selbst sitzt hinter einem Haufen Bücher und Zeitschriften, bebilderten Tierkundewerken, an seinem Arbeitstisch. Er erinnert an einen freundlichen Antiquar aus Kinderbüchern.

Seerosen und Libellen aus Glas

Der 71-Jährige, der meist Freitagvormittag selbst im Laden sitzt – sonst kümmert sich seine Frau um die Kundschaft –, freut sich über die spärlichen Touristen, die sich gelegentlich für seine gläsernen Seerosen und Libellen begeistern. Wenn es denn sein muss, verkauft er auch Souvenirs wie die zierlichen Schmetterlinge – Petitessen neben den schillernden Kunstwerken um Hunderte Euro: „Die werden wohl so um die fünf Euro kosten“, meint er – das Geschäftliche, wie gesagt, sei Sache der Gattin.

Mit elf Jahren wurde Vittorio, der aus Burano stammt, in die Glasfabrik zur Lehre geschickt. Die Glasbläserei war zunächst nur ein Hobby, bevor es zu Passion und Lebenserwerb wurde. Stundenlang beobachtet er heute noch die Tier- und Pflanzenwelt der Felder, in der Luft und auf dem Wasser, ein „kleines Universum“ nennt er es. Die Calle del Fumo ist selbst so ein Mikrokosmos, ein Paralleluniversum im manchmal von Wasser, doch stets von Touristen überfluteten Venedig. Souvenirläden und teure Cafés haben im Gefolge des Zeitgeists kleine Fachgeschäfte verdrängt. Nicht in der Calle del Fumo. Hier findet sich der Steinmetz am Eck, gleich neben dem Blumenladen mit Grabzubehör, logische Vorboten der nahen Vaporetto-Station Richtung Friedhof. Ein paar Häuser weiter werden die Rahmen für Venedig-Aquarelle noch händisch gefertigt und die Enoteca mit den friulanischen Weinen lockt die Anrainer mit wohlfeilen „12 Euro für 3 Bouteillen“-Aktionen. Das kleine Reisebüro Welcome-Travel hält für alle Fälle die Tür zur Welt offen. Das Unscheinbare, Dunkle der engen Gasse hat die Existenz dieser Kleinunternehmer und Kunsthandwerker gesichert.

Auch jene von Gianni Basso auf Nummer 5306. Er ist ein Nachfahre der großen venezianischen Buchdrucker. Sein Atelier sieht aus, wie eine Druckerwerkstatt aussehen soll: Die Gutenberg-Presse steht im hinteren Teil des Ateliers, an den unverputzten Wänden hängen Setzkästen mit Bleibuchstaben, dazwischen gerahmte Drucke mit Venedig-Motiven, im Regal unterhalb der Decke finden sich alte Weinflaschen, daneben ein altes Postpaket mit einem aufgeklebten Porträt von Johannes Gutenberg.

Der letzte Stampatore von Venedig

Er ist Bassos geistiger Urahn: Bereits kurz nach der Erfindung der Druckerpresse wurde Venedig zu einem Zentrum der neuen Kunst. Hier druckten etwa die Deutschen Johannes und Vendelin von Speyer das erste Buch auf Italienisch, den „Canzoniere“ von Francesco Petrarca. Es wurde zu einem Modell europäischen Buchdrucks. Gianni Basso, der sein Handwerk im Kloster gelernt hat, ist der letzte Stampatore von Venedig, der einzige, der diese Tradition unbeirrt hochhält. Mit Design und Druck von exklusiven Visiten- und Menükarten, von Einladungen, Ex libris, Briefpapier oder Tagebüchern hat er sich einen Ruf weit über Venedig hinaus erworben. Die Farben sind handgemischt. Die Kundschaft dieser Druckerei auf 35 Quadratmetern kommt aus der ganzen Welt: Susan Sontag, Tony Blair oder Hugh Grant orderten hier. Willkommen sind alle, so lang sie bar bezahlen, Kreditkarten werden selbstredend nicht akzeptiert.

Doch selbst in der Calle del Fumo ist die Zeit nicht stehen geblieben, die Menschen hier gehen nur sorgsam mit ihr um. Sie machen dabei durchaus ihr Geschäft – mit exklusivem Understatement. Schuster Mauro pflegt seinen Ruf als wahrer Schuhmachermeister, keinem modernen Zeitdruck unterworfen – und die Kundschaft steht Schlange. Glasartist Vittorio Costantini ist nicht nur ein geduldiger älterer Herr, sondern ein international anerkannter Künstler mit Marktwert. Mit seiner Tierwelt ist er um den Globus gereist, hat in Japan, Taiwan, den USA, in Schweden oder Österreich ausgestellt. Satz- und Druckkünstler Gianni Basso legt Wert auf die Feststellung, dass er natürlich nicht auf Facebook zu finden sei, und zeigt auf das alte, schwarze Telefon mit Wählscheibe, sein einziges Zugeständnis an die moderne Telekommunikation. Doch die Ex libris und Visitkarten seiner berühmtesten Kunden sind wie beiläufig und gerade deswegen schön sichtbar im Schaufenster ausgestellt.

Es sind nicht die Orte wie die Calle del Fumo, die Venedig zur größten Touristendestination der Welt gemacht haben. Aber „die Fumo“ und ein paar mehr von ihrer Art erhalten die Stadt liebenswert. Vittorio Costantini gibt für seine jüngsten Besucher gern eine Vorstellung. „Zu Weihnachten hat das meine Mutter immer für uns Kinder gemacht“, sagt er und nimmt eine der durchsichtigen Glasstangen, die vor ihm liegen. Dann bläst er sie, erhitzt und amorph, zum Ballon auf, so lang, bis dieser knisternd platzt. Leise rieseln hunderte Schneescherben zu Boden.

AUTHENTISCH ESSEN IN VENEDIG – BEST OF CANNAREGIO

Cannaregio: In den Vierteln rund um die Fondamenta Misericordia, Fondamenta Mori und Fondamenta Nuove gibt's noch Handwerker, Bäckereien oder Weinhandlungen, die vor allem die Anrainer versorgen.

Glaskünstler Vittorio Costantini: Cannaregio, Calle del Fumo 5311, vittoriocostantini.com

Stampatore Gianni Basso: Cannaregio, Calle del Fumo 5306, Te.: +39/041/523 46 81.

Essen und trinken: Reservierung vorab wird bei allen Lokalen empfohlen.

Ristorante – Pizzeria Da Alvise, Fondamenta Nuove, Cannaregio 5045/a. Ausgezeichnete Pizze zu sehr vernünftigen Preisen. Einfach, gemütlich. Im Winter Mo geschlossen. ristorantedaalvise.it

Osteria l'orto dei Mori, Campo dei Mori, Cannaregio 3386. Kleines, farbenfroh und liebevoll dekoriertes Lokal mit guter, moderner venezianischer Küche und wechselnder Karte, nicht billig, aber für Venedig sehr in Ordnung. Di geschlossen. osteriaortodeimori.com

Ostaria da Rioba, Fondamenta della Misericordia, Cannaregio 2553. Kreative Küche vom Markt in schlicht-geschmackvollem Ambiente, Preise gehoben, nicht abgehoben. Man kann in Venedig für viel mehr Geld sehr viel schlechter essen. darioba.com.

Osteria Anice Stellato, Cucina dalla Tradizione Veneziana, Venezia Fondamente de la Sensas, Cannaregio 3272. Gute, traditionelle venezianische Küche in modernem Ambiente. Mo/Di geschlossen. osterianicestellato.com.

Osteria Bea Vita, Fondamenta delle Capuccine, Cannaregio 3082. Wer authentische Küche, einfach aber frisch, sucht, ist hier richtig. Das Mittagsmenü macht auch die Arbeiter der Gegend satt und nicht arm. Fürs romantische Abendessen zu zweit ist es nicht geeignet. Tel.: +041/275 93 47, osteriabeavita@libero.it

Hotel Ai Mori d'Oriente, Fondamenta Della Sensa, Cannaregio 3319. Stilvolles Viersternehotel mit üppig dekorierten Zimmern mit Himmelbetten in einem Palazzo aus dem 15. Jahrhundert, ruhig an einem Kanal gelegen. morihotel.com/es/location.htm.

Hotel Carnival Palace, Fondamenta de Cannaregio 929. Die eleganten Zimmer des neuen Viersterne-Design-Hotels (mit Garten) sind im klassischen venezianischen Stil, neu designt, eingerichtet. carnivalpalace.com

Ca' Pozo Inn, Cannaregio 1279. Boutiquehotel im Ghetto-Viertel mit modernen, in schlichtem Design gehaltenen Zimmern. Im Sommer wird das Frühstück im Innenhof serviert. capozzoinn.com.

Nicht nur die guten Hotels sind in Venedig teuer. Besonders für Familien oder kleinere Gruppen sind Ferienwohnungen eine Alternative. Neben den großen Web-Hotelbuchungsmaschinen empfiehlt sich eine kleine lokale Agentur für Ferienwohnungen:

Mitwohnzentrale Venezia, www.mwz-online.com/german/german.htm, E-Mail: info@venrent.com. Auf der Homepage finden sich keine Wohnungen, sondern nur ein paar Infos und ein Anfrageformular. Interessierte erhalten dann individuell abgestimmte Angebote, für oft sehr schöne Objekte, nicht nur, aber auch in Cannaregio.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 05.03.2016)

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