Wenn Kinder ausziehen: Eine Anleitung zum Loslassen

In der Wohnung von Tochter Katharina ist Eva Rauter nur hin und wieder zu Besuch. Die Tochter findet es „cool“, allein zu wohnen. Der quirlige Kater Alfred leistet ihr dabei Gesellschaft.
In der Wohnung von Tochter Katharina ist Eva Rauter nur hin und wieder zu Besuch. Die Tochter findet es „cool“, allein zu wohnen. Der quirlige Kater Alfred leistet ihr dabei Gesellschaft.Die Presse
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Vor allem Mütter gewinnen eine neue Freiheit, wenn die Kinder das Haus verlassen. Trotzdem weinen viele heimlich, wenn sie plötzlich vor dem leeren Nest stehen.

Es kam ganz plötzlich – mitten im Maturastress. Eines Tages stand ich im Zimmer meiner Tochter und kämpfte mit den Tränen. Der Raum kam mir so leer vor. Dabei sah es aus wie immer: der Kleiderberg auf dem Boden, die Zettelwirtschaft auf dem Tisch, die aufgeschlagene Bettdecke. Nach der Schule würde sie heimkommen und mich mit ihrem fröhlichen „Wie geht's dir, Mama?“ begrüßen. Doch zum ersten Mal stellte ich mir die Frage: Wie lang noch?

Wenig später spürte sie meine Gedanken und wollte mich tröstend in den Arm nehmen. „Mama, du musst dich auf die Stufe stellen“, forderte sie mich auf. „Warum?“, fragte ich. „Du musst größer sein als ich.“ Seit bald 19 Jahren ist es als „Größere“ meine Aufgabe, den Kindern Halt und Geborgenheit zu geben. Also stieg ich auf die Stufe und ließ mich umarmen.

Aber warum war da diese Traurigkeit? Geht es anderen Eltern auch so? Psychologin Gertrud Kuffner kennt das Phänomen, auch wenn sich viele Eltern dessen nicht bewusst sind. „Die meisten kommen mit sehr diffusen Beeinträchtigungen. Oft ist meinen Klienten nicht klar, dass der Auszug der Kinder für sie ein Thema ist. Wenn ich es in der Therapie aber anspreche, fließen die Tränen.“ Meist kommen mehrere Dinge zusammen – bei den Frauen fällt der Weggang der Kinder oft in die Zeit der Wechseljahre, die schon schwierig genug ist. Da darf man Emotionen freien Lauf lassen, findet Kuffner: „Tränen dürfen sein. Es ist schließlich ein Abschied, eine Trauerphase: Wir kommen von einem sicheren Bereich unseres Lebens, in dem die Augen auf das Kind gerichtet sind, in eine Freiheitsphase, die sehr schön sein kann, die wir aber auch als Unsicherheit und Leere empfinden können.“ Die Kinder werden flügge, verlassen das Nest – es packt einen das Empty-Nest-Syndrom. Ein bisschen Traurigkeit ist normal – und kein Grund, zum Therapeuten zu pilgern. Es kann jedoch vorkommen, dass professionelle Unterstützung nötig wird: bei extremer Schlaflosigkeit, bei großer Traurigkeit, Lustlosigkeit, Appetitlosigkeit, wenn es in Richtung Depression geht. „Dann sollte man schon genauer hinschauen“, rät die Expertin.

Ein neues Maß an Freiheit. Frauen, die arbeiten, fällt es leichter, sich auf die neue Situation einzustellen, sagt Kuffner. Ganz leicht aber auch nicht, wie Ingrid Amon schildert. Die Sprechtrainerin, Autorin und Vortragende ist alleinerziehende Mutter. Als die 19-jährige Tochter „von heute auf morgen“ zum Studium nach Potsdam ging, sei sie wochenlang zu beschäftigt gewesen, um darüber nachzudenken. „Nach acht Wochen habe ich mitgekriegt, dass ich mich dem stellen muss, sonst trauere ich ewig.“ Sie traf Freundinnen, denen es ähnlich erging, und „wir haben gemeinsam ein bissl geheult“ – vor der Tochter hätte sie aber nie geweint.

Plötzlich ist der Kühlschrank halb leer. Es verschwindet nichts mehr aus dem Kleiderschrank. Der Tisch ist ihr zu groß. „In der ersten Phase der Trauer habe ich mir sogar überlegt, ob ich überhaupt einen Christbaum daheim stehen haben will.“ Gleichzeitig sei sie beruflich heute wesentlich freier als früher. „Man muss nicht mehr nach Hause hetzen, weil man noch mit dem Kind essen will.“ Sie habe nun „ein enormes Maß an Freiheit“: „Das ist schön und gleichzeitig irritierend.“ Auch für die Jugendlichen ist der Auszug eine unsichere Phase, sagt Kuffner, „aber sie haben die Aufbruchstimmung, das Unbeschwerte, während wir schon diesen grauen Blick haben und nur sehen, was alles passieren könnte, wenn man allein wohnt, und fragen: ,Sperrst du auch abends die Tür zu?‘“

Gewöhnungsbedürftig sei es schon gewesen, plötzlich allein zu leben, erzählt Katharina Rauter. Nach der Scheidung der Eltern zog sie mit 18 in eine eigene Wohnung. „In der ersten Nacht wollte sie, dass ich bei ihr schlafe“, erzählt ihre Mutter Eva, der es „überhaupt nicht leicht“ gefallen ist, das Kind gehen zu lassen. „Sie war ja erst 18. Und es ist alles so schnell gegangen – das hat mich überrumpelt.“ Und dann hat das Kind auch noch den geliebten Kater mitgenommen.

Sie sei aber auch sehr stolz, dass ihre Tochter so selbstständig sei. Kein Problem für Katharina, die schon vorher „relativ viel allein“ war, weil die Mutter ein Geschäft betreibt. „Am Anfang ist es aber schon komisch, wenn man weiß, es kommt niemand heim.“ Seit sie sich daran gewöhnt hat – Kater Alfred leistet Gesellschaft – findet es die WU-Studentin „cool“ und trifft sich mit der Mutter auf Augenhöhe: „Wir frühstücken manchmal miteinander, oder ich gehe sie im Geschäft besuchen. Und ich telefoniere jeden Tag mit ihr – mehr als mit meinen Freundinnen.“ Da machen die beiden viel richtig, sagt Kuffner: Sie empfiehlt nach dem Auszug regelmäßige Treffen – „aber nur, wenn sie freiwillig sind“. Außerdem müssten sich die Kinder daran gewöhnen, daheim nur Gäste zu sein: „Die dürfen nicht plötzlich in der Tür stehen. Die Intimsphäre der Eltern ist zu respektieren. Und umgekehrt: Die Eltern dürfen nicht auf einmal in der Wohnung des Kindes stehen.“ Und noch etwas stellt die Expertin klar: Ausgezogen ist ausgezogen – das heißt auch, dass man seine Wohnung selbst putzt und die Wäsche wäscht. „Es geht darum loszulassen.“


„Kinder ja nicht festhalten.“ Auch Eva Rauter erzählt, dass sie über den Auszug der Tochter „sehr traurig“ war. Auch sie hat nur heimlich geweint. „Es war eine innere Leere. Die neue Freiheit als Mutter lernt man erst step by step kennen.“ Ihr Rat: „Die Kinder ja nicht festhalten. Sie müssen ihren eigenen Weg gehen.“ Sie selbst habe als junge Frau die umgekehrte Erfahrung gemacht: „Ich durfte nicht ausziehen. Meine Eltern wollten, dass ich bis 30 daheim wohne. Ich habe dann mit 20 einfach mein Kofferl gepackt und bin nach Wien gegangen – gegen deren Willen.“ Das hat die Beziehung zu den Eltern belastet: „Es war eine Katastrophe – monatelang. Ich habe mich gar nicht getraut, daheim anzurufen.“

Die Heimlichtuerei mit der Traurigkeit, von der viele Frauen erzählen, geht Ingrid Amon auf die Nerven: „Ich erlebe in der Öffentlichkeit keine Ermutigung für Mütter, dass man traurig sein darf“, ärgert sie sich. Aber warum eigentlich? „Du musst dein Kind loslassen – das ist derselbe Abschiedsprozess wie bei einer Trennung.“ Sie habe sich dann auch die Sinnfrage gestellt: „Nach zwanzig Jahren – das ist ja eine Lebensaufgabe – bin ich stolz, das gemacht zu haben. Und ich frage mich, ob es noch einmal im Leben etwas geben wird, was mich so begeistert, für das es sich so lohnt, sich einzusetzen.“

Für Hausfrauen sei diese Neuorientierung besonders schwierig, sagt Kuffner. Sie können sich nicht ins Berufsleben stürzen – bleiben Hobbys oder soziales Engagement. Das allein sei aber nicht erfüllend, meint die Therapeutin. „Wertschätzung läuft bei uns sehr viel über Bezahlung. Und für eine Frau, die Managerin eines Haushalts mit drei, vier, fünf Personen war, reicht es nicht, auf einmal nur Ikebana zu machen.“ Viele Mütter hätten verlernt, darauf zu horchen, was sie selbst brauchen: „Wenn das Baby schreit, kann ich mich nicht fragen, ob ich jetzt lieber einen Stadtbummel machen oder Kaffee trinken gehen würde.“ Das Bild der aufopfernden Mutter habe aber ausgedient: „Es ist eine neue Funktion der Frau, sich selbst im Blick zu behalten.“

Und den Partner. Genau da spießt es sich meist zusätzlich. „Obwohl die Kinder zunächst kleiner sind und man drüberschauen könnte, wird der Partner oft nicht mehr gesehen.“ Ehen gehen auseinander, wenn Kinder ausziehen und sie das Einzige waren, was die Partner zusammengehalten hat. Was dann passiert? „Die Männer finden eine Außenbeziehung, weil sich die Beziehung abgenutzt hat und sich in Sachen Intimität neben den Kindern nicht so viel abspielt. Und die Frauen fragen sich: Was tue ich mit diesem Mann?“ Dabei biete sich, wenn niemand zu bemuttern ist, die Chance für einen Neuanfang. Den Männern rät Kuffner, ihre Frauen zu unterstützen: „Das Wichtigste ist, ihr zu sagen: Ich bin bei dir. Du bist für mich immer noch der wichtigste Mensch.“ Mit ihren Klientinnen begibt sich die Therapeutin auf die Spurensuche nach dem, „was in der Zeit der Kinderaufzucht verschüttet worden ist“: „Ich sage dann: Freuen sie sich doch! Das ist die neue Freiheit.“

Auch wenn man die manchmal erst wieder genießen lernen muss.

Buchtipp

Loslassen. In dem Buch beschreibt die Psychotherapeutin Verena Kast die Phasen des Ablösungsprozesses von Eltern und Kindern – und zeigt auf, wie es gelingen kann, sich selbst neu zu finden (Herder).

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.03.2016)

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