Anonymverfügung: Strafe für Überzahlung verfassungswidrig?

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Der Fall eines Autofahrers, der zu viel für eine Anonymverfügung zahlte und bestraft wurde, zeigt: Der Staat darf nicht nur den Nutzen aus der Automatisierung von Verfahren ziehen und die Risken auf die Bürger abwälzen.

Wien. Im „Rechtspanorama“ vom 22. Februar wurde kurz über ein Erkenntnis des Verwaltungsgerichtshofs berichtet, wonach das Risiko der Überzahlung einer Anonymverfügung voll zu Lasten der betroffenen Person geht (2013/02/0219). Diese Entscheidung widerspricht den rechtsstaatlichen Prinzipien des Staates im Wissens- und Netzwerkzeitalter, dem Prinzip der Verfahrensgerechtigkeit und des angemessenen Rechtsschutzes (Art. 6 EMRK bzw. 47 der EU-Grundrechtecharta).

Strafautomat als Einnahmequelle

Eine wesentliche Aufgabe des Rechtsstaates ist die Risikoreduktion. Bürgerinnen und Bürger sollen sich so verhalten, dass das Risiko für sie selbst und für Dritte minimiert wird. Der Sanktionsmechanismus verhindert Risken, schafft aber auch neue Gefahren. Rechtswidrige Normen und Rechtsakte dürfen nicht ignoriert werden, sondern müssen beachtet werden, bis die zuständige Behörde bzw. ein zuständiges Gericht diese aufhebt (sogenanntes Fehlerkalkül). Daher muss ein angemessener Rechtsschutz gewährleistet werden; insbesondere dann, wenn bei der Menge an Verfahren weitgehend automatisiert vorgegangen wird. Der Staat könnte sonst Strafermächtigungen als Einnahmequelle missbrauchen, was denkbar ist, wenn Rechtsmittel ineffizient und teuer sind.

Mit Hilfe von Informationstechnologien (IT) konnten in Massenverfahren bei automatisierter Sachverhaltsfeststellung und Behördenentscheidung die Zahl der Erledigungen (vor allem der Anonymverfügungen) wesentlich erhöht und die Kosten dieser Schriftstücke reduziert werden. Die Krux bei Anonymverfügungen ist das sehr starre Verfahren. Die aktuelle Rechtslage kennt kein Fehlerkalkül für den Betroffenen und entspricht bei Weitem nicht den heutigen Standards logischer Programmierung. Die der gegenstandslos gewordenen Anonymverfügung folgende Erledigung, z. B. als Strafverfügung, führt regelmäßig zu einer höheren Strafe (im Anlassfall zahlte der Schnellfahrer bei gleicher Strafbemessungsanordnung statt 56 nun 70 Euro, trotz rechtzeitiger „Überzahlung“). Der Rechtsstreit bis zum VwGH mit Einschaltung eines Anwalts hat letztlich in einer schmerzhaften Strafe resultiert.

Das Risikopotenzial menschlicher Fehler ist einzelfallbezogen, daher mengenmäßig begrenzt und mit Rechtsschutz einigermaßen zu beseitigen. Im IT-gestützten Verfahren multiplizieren sich Fehler sehr schnell; der Bürger muss aber dagegen manuell vorgehen. Dies gilt an sich auch für „dumme“ Programmfehler. In der Judikatur des Verfassungsgerichtshofs (VfGH) ist es unbestritten, dass bei Einsatz von technischen Instrumenten eine möglichst geringe Fehlertoleranz vorhanden sein darf.

Die moderne Rechtstheorie und -informatik geht aber weiter. Risken sind zu identifizieren, der Staat muss Risikovermeidung betreiben. Den Vorteilen der Automatisierung für den Staat muss eine adäquate Fehlertoleranz für den Betroffenen gegenüberstehen.

§ 49a Verwaltungsstrafgesetz (VStG) verlangt die exakte Einzahlung der Strafe bei Angabe der richtigen Identifikationsnummer. Angesichts der aktuellen Ausdünnung des Netzes von Bankfilialen und der Gebührensituation bei Bareinzahlungen muss die durch den Gesetzgeber vorgesehene „Risikoprivilegierung“ dieser Einzahlungsmethode hinterfragt werden. Eine App zum Scannen des Erlagscheins und Übernahme in das E-Banking könnte zukünftig helfen. Derzeit tippt der Bürger die Daten selbst ein, wobei es hier zu Fehlern kommen kann. Diese gehen aber immer zu seinen Lasten.

Fehlerquote sollte minimiert werden

Statistiken (u. a. des Rechnungshofs) zum Fehlerrisiko zeigen, dass je nach Bezirk in zwölf bis 20 Prozent der Anonymverfügungen keine Zahlung erfolgt. In den meisten dieser Fälle werden Einwendungen im Verwaltungsstrafverfahren erhoben, oder die Betroffenen sind nicht zahlungsfähig. Die Fehlerquote der Einzahlung eines falschen Betrags bzw. der falschen Identifikationsnummer liegt unter einem Prozent; bei der Menge dieser Verfahren (allein in Niederösterreich sind es 1,2 Millionen) ist dies nicht unwesentlich und wäre noch zu minimieren. Eine Fehlerquote von einem Promille wäre wünschenswert.

Dieses Ziel kann erreicht werden, wenn leicht handhabbare Prozesse zur Korrektur bereitgestellt werden. Zumindest bei elektronischer Einzahlung ließe sich eine „Falschzahlung“ feststellen (zu viel bzw. geringfügig zu wenig gezahlt) und bei Einhebung einer Kostenpauschale von etwa drei Euro „rückabwickeln“ (automatisierte Rückzahlung bzw. Nachforderung). Es bringt keinen unverhältnismäßigen Aufwand; falls nötig, bietet das Verwaltungsverfahren einen Rechtsschutz.

Die Entscheidung des VwGH entspricht daher zwar § 49a VStG, geht aber nicht darauf ein, dass die Vorteile des IT-Einsatzes zu Lasten des Bürgers verteilt sind. Der Gesetzgeber sieht die Anonymverfügung als „Entgegenkommen“. Hier wäre ein Ausgleich im Sinne der Grundsätze der Verfahrensgerechtigkeit und des Rechtsschutzes zur Vermeidung von Grundrechtswidrigkeiten zu schaffen gewesen. Der VwGH hätte die Möglichkeit gehabt, den VfGH mit der Frage zu befassen, ob die anzuwendende Bestimmung verfassungs- bzw. grundrechtswidrig sei.

Im Wissens- und Netzwerkzeitalter hat der VfGH – mit den anderen Höchstgerichten – eine neue Aufgabe bekommen: Der Einsatz von IT muss mit einer adäquaten Risikoverteilung und angemessenem Rechtsschutz erfolgen. Dies ist nicht der Fall, wenn schon eine Mehrzahlung dem Betroffenen als Nichtzahlung angelastet wird. Letztlich wird von der IT nicht zu Unrecht verlangt, dass deren Verwaltungshandlungen weniger fehleranfällig als menschliche sein müssen. Die Vorteile der IT für den Staat – Schlagwort Digitales Government oder früher E-Government – verlangen bürgerfreundliche Rechtsschutzmodelle im Sinne eines effizienten Grundrechtsschutzes.


Ao. Univ.-Prof. Mag. DDr. Erich Schweighofer, lehrt am Juridicum der Universität Wien; Leiter der Arbeitsgruppe Rechtsinformatik; DDr. Thomas Preiß hat im Jänner 2016 die Dissertation „Die Bedeutung der Risikoanalyse für den Rechtsschutz bei automatisierten Verwaltungsstrafverfahren“ an der Universität Wien abgeschlossen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2016)

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