Wohlstand ist doch nichts Verwerfliches

Lokalaugenschein in Lateinamerika. Der Papst, die Kirche und evangelikal-pfingstlerische Gemeinden ringen um Südamerikas "Seele".

Apayravi ist ein kleines Dorf in der Einsamkeit der wüstenhaften Ebene nördlich der großen Salzseen in Bolivien. Mit dem nächsten größeren Ort in 50 Kilometern Entfernung ist es über eine Sandpiste verbunden.

Wir sind in dieser gottverlassenen Öde überhaupt nur stehen geblieben, weil wir den Weg verloren haben. Die wenigen Behausungen sind braune, strohgedeckte Lehmhütten, am großen quadratischen Hauptplatz stehen ein paar notdürftig verputzte Ziegelhäuser, darunter die Schule und das Gemeindeamt. Der kalte Wind des Altiplano bläst unentwegt beißende Staubwolken durch die rasterförmig angelegte Siedlung.

Es ist ein Sonntag. An einem Eck des Platzes hat sich eine kleine Menge um einen funkelnagelneuen Pick-up versammelt, aus dessen Lautsprecher „revolutionäre“ Musik plärrt: Hymnen an Che Guevara und Loblieder auf den Präsidenten Evo Morales, den „großen Wohltäter des Volkes“, von dem, wollte man den Parolen glauben, alles Gute kommt. Es wird gerade eine Kundgebung der Regierungspartei MAS – Movimiento al Socialismo – vorbereitet.

Schräg gegenüber steht die von einem Hof umgebene, große, strahlend weiße Kirche aus der Kolonialzeit. Von der früher vielleicht einmal prächtigen Einrichtung ist nur noch der Altar vorhanden. In den Lautsprecher des Evo-Trosses hinein läuten die Kirchenglocken und rufen zum Gottesdienst.

Alle drei Wochen komme ein Priester zur Heiligen Messe, sagt der örtliche Katechist, an diesem Sonntag wird er selbst einen Wortgottesdienst halten. Als wir den Ort verlassen, treffen wir auf einen Mann mit einem dicken Buch in der Hand, das wir – reichlich ahnungslos – für ein Schott-Messbuch halten. Bereitwillig und freundlich zeigt er es uns: „Iglesia pentecostal“, steht darauf. Es ist das Gebets- und Gesangsbuch einer Pfingstlerkirche. Der Mann ist nicht auf dem Weg in die katholische Kirche, sondern zum Gottesdienst seiner Gemeinde.

Selbst in einem Dorf wie dem ärmlichen Apayravi treffen die drei Mächte aufeinander, die heute gewissermaßen um die „Seele“ Lateinamerikas ringen: Linkspopulistische Bewegungen mit ihren maßlosen und machtversessenen Caudillos, die tief verunsicherte katholische Kirche und die oft aus den USA kommenden evangelikalen Kirchen und pfingstlerischen Sekten. Es gibt auf dem ganzen Kontinent kein Dorf, in dem nicht außer der alle Häuser überragenden Kirche irgendwo auch der Betsaal einer solchen Gemeinde steht.

Bolivien und Mexiko – zwei Länder, die Papst Franziskus besucht hat, stehen beispielhaft für die religiösen und sozialen Umbrüche in Lateinamerika. Der Anteil der Katholiken auf dem Kontinent ist im Schnitt auf unter 70 Prozent gesunken, zur gleichen Zeit ist die Zahl der Anhänger von protestantischen Freikirchen, Pfingstkirchen, evangelikalen Gemeinschaften auf rund 20 Prozent gestiegen.

Es sind vorwiegend, aber nicht nur, die Armen, die vom Land in die Städte gezogen sind, die zu diesen Gemeinschaften strömen. Diese Kirchen gehen auch zu den Menschen in die Dörfer hinaus.

Irdische Verheißungen

Ihre Theologie einer unmittelbaren Beziehung zu Gott und einer spontanen Jesus-Beziehung ist oft verbunden mit einer aus der calvinistischen Tradition kommenden Verheißung irdischen Wohlergehens für den Gläubigen. Damit einher geht der Gedanke der Auserwählung, der materiellen Erfolg im Diesseits als Ausdruck göttlicher Gnade versteht. Das ist aber zugleich ein Ansporn, sein Schicksal in die Hand zu nehmen und selbst etwas zu tun, um sein Leben zu verbessern.

Als Beispiel dafür mag eine Glaubensgemeinschaft gelten, die sich „surfistas cristianos“, christliche Surfer nennt. Sie kommt aus Australien und hat Anhänger in einer Kleinstadt an der mexikanischen Pazifikküste, einem bekannten Surferparadies. Viele Leute leben dort vom Tourismus, für die jungen Männer ist Surfen zugleich Vergnügen und eine Einkommensquelle, wenn sie als Surflehrer Kunden finden. Die Homepage der „surfistas“ gibt wenig Auskunft über deren religiöse Auffassungen, jedenfalls haben sie sich „Mission“ zum Ziel gesetzt.

Typisch für solche und andere evangelikale Gemeinden ist ein im ursprünglichen Sinn fundamentalistisches Bibelverständnis. Eine historisch-kritische Bibellektüre lehnen sie ab. Aussagen der Bibel, namentlich des Alten Testaments, werden wörtlich gelesen und unmittelbar auf das eigene Leben angewendet. „Gott hat mir eingegeben, dir dein Auto zu reparieren“, sagte ein Surfista eines Tages zum Mann einer Österreicherin, die der Gruppe angehört und in ihr Geborgenheit und Unterstützung erfährt.

Konkurrenz für die Kirche

Diese religiöse Welt ist zu einer großen Konkurrenz und Herausforderung für die katholische Kirche geworden. Ein österreichischer Missionar, der seit über 30 Jahren am Altiplano in Peru fünf Pfarren auf einer Seehöhe zwischen 4000 und 5000 Metern und mit einem Gesamtgebiet so groß wie das Bundesland Salzburg betreut, erlebt das unmittelbar: „Es stimmt, dass sie sich gegenseitig helfen und auch finanziell unterstützen“, sagt er über diese Gemeinschaften.

Die Option der Armen

Und er berichtet weiter: „Es geht diesen Menschen teilweise auch deshalb besser, weil die Männer nicht mehr trinken und mit dem Geld besser umgehen. Es sind vor allem Laienkirchen. Jeder ist Pastor und Missionar und versucht, andere zu gewinnen.“

Der Pfarrer aus Oberösterreich verwendet einen sarkastischen Vergleich: Während manche in der katholischen Kirche ihre „Option für die Armen“ beschwören, hätten die Armen ihre Option schon gewählt: den Wohlstand, und nicht eine Kirche, die ihnen die Armut zu verklären sucht.

Die Sekten fragen nicht nach den Ursachen der oft tatsächlich horrend ungerechten Verhältnisse, sondern sie bieten die Aussicht, es sich trotz dieser Verhältnisse persönlich zu verbessern.

Der bekannte, aus Österreich stammende US-Religionssoziologe Peter Berger meint, diese Bewegungen leisteten einen wichtigen Beitrag zur Modernisierung des Kontinents. Sie spielten in Lateinamerika und auch in Afrika dieselbe Rolle wie der Protestantismus im 18. Jahrhundert für die Entwicklung des europäischen Kapitalismus. Sie predigen Tugenden wie Treue, Enthaltsamkeit (vor allem von Alkohol), Familiensinn, Arbeitsdisziplin, Sparsamkeit und Sauberkeit. Im Wohlstand sehen sie nichts Verwerfliches.

Papst hielt Eliten Spiegel vor

Papst Franziskus ist für seine Auftritte und Aussagen in Mexiko wieder einmal als „Linker“ gerühmt worden. Tatsächlich fehlt ihm ein Verständnis davon, dass genau jenes globalisierte Wirtschaftssystem, das er kritisiert, Millionen aus Hunger, Elend und Rückständigkeit herausgeholt hat und täglich herausholt.

Aber der Papst hatte in Mexiko primär gar keine sozialpolitische oder ökonomische Botschaft. Den Eliten hat er einen Spiegel vorgehalten, wie es wirklich um ihr Land steht, und seinen Mitbrüdern im Bischofsamt ein Beispiel dafür gegeben, wie es gehen könnte, das Ringen um die Herzen der Menschen aufzunehmen.

DER AUTOR

Hans Winkler war langjähriger
Leiter der Wiener Redaktion der
„Kleinen Zeitung“.

Debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.03.2016)

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