Nach mehrstündigen Beratungen vertagten die Staats- und Regierungschefs die Entscheidung über ein Abkommen mit der Türkei zur Eindämmung der Flüchtlingskrise.
Brüssel. Der Berg kreißte - und gebar offenbar nicht einmal eine Maus. Nach mehrstündigen Beratungen vertagten die in Brüssel versammelten Staats- und Regierungschefs der EU die Entscheidung über ein Abkommen mit der Türkei zur Eindämmung der Flüchtlingskrise. Man werde die Verhandlungen in den kommenden Tagen fortsetzen, hieß es Montagabend in den Couloirs des Brüsseler Ratsgebäudes Justus Lipsius.
Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orban hat sein Veto gegen den geplanten Flüchtlingsdeal eingelegt. "Er hat ein Veto eingelegt gegen den Plan, wonach Migranten und Asylbewerber direkt aus der Türkei nach Europa umgesiedelt würden", sagte der ungarische Regierungssprecher Zoltan Kovacs der Nachrichtenagentur Reuters. Die Ablehnung Ungarns ist keine Überraschung, lehnt es doch seit Monaten strikt jede Aufnahme von Flüchtlingen im Rahmen europäischer Verteilungsmechanismen ab. Orban will seine diesbezügliche Politik auch mit einem Referendum einzementieren.
Gerüchteweise gab es auch Widerstand Frankreichs wegen der Visafreiheit für Türken; Zypern wiederum soll beschleunigte EU-Beitrittsverhandlung mit der Türkei ablehnen. Eine offizielle Stellungnahme von Ratspräsident Donald Tusk war aber noch ausständig. Stattdessen wurde weiter bis in die späten Abendstunden getagt.
"Neue Ideen" aus der Türkei
Zuvor hatte der türkische Premier, Ahmet Davutoğlu, seine europäischen Kollegen mit „neuen Ideen“ überrascht, wie es ein Brüsseler Beamter diplomatisch formulierte – woraufhin die Agenda des Treffens nolens volens über den Haufen geworfen werden musste. Anstatt am Nachmittag eine Entscheidung zu treffen, zogen sich die Verhandlungen hin.
Der Grund: Die Türkei hat im Poker um die nach Europa drängenden Flüchtlinge und Migranten den Einsatz erhöht. Angesichts der Tatsache, dass sowohl Deutschland als auch die EU-Kommission ein Abkommen mit der Türkei zum Schutz der EU-Außengrenze als Conditio sine qua non erachten, schraubt Ankara seine Forderungen nach oben. Im ursprünglichen, Ende November vereinbarten Aktionsplan EU-Türkei wurden Ankara bis Ende 2017 drei Mrd. Euro für die Versorgung Schutzbedürftiger, die Wiederaufnahme der EU-Beitrittsverhandlungen, eine Entscheidung über Visaliberalisierung im Herbst sowie die Übernahme syrischer Flüchtlinge aus der Türkei in Aussicht gestellt. Dem Vernehmen nach will Davutoğlu nun mehr Geld (angeblich insgesamt sechs Mrd. Euro bis 2018), die Eröffnung von fünf weiteren Erweiterungskapiteln, Visafreiheit für alle türkischen Staatsbürger ab 1. Juni sowie die Zusage, dass die EU für jeden irregulären Migranten, der in die Türkei abgeschoben wird, einen regulären syrischen Flüchtling aus der Türkei aufnimmt. Wobei der letzte Verhandlungsgegenstand umstritten ist: Aus Sicht des UN-Flüchtlingshilfswerks UNHCR darf die EU keinen Flüchtling in spe ohne Verfahren abschieben, da die Türkei die Genfer Flüchtlingskonvention nur auf Europäer anwendet. Sollten sich die EU und Ankara auf diesen Passus einigen, wird die Angelegenheit laut UNHCR vor dem EuGH landen.
Merkel übt sich in Tiefstapelei
Doch zurück zur türkischen Verhandlungstaktik: Dem Paukenschlag vorausgegangen war eine nächtliche Unterredung Davutoğlus mit der deutschen Kanzlerin. Dass Merkel von den Sonderwünschen überrascht wurde, erscheint unwahrscheinlich. Klar ist, dass sie sich politischer Tiefstapelei übt und auf den regulären EU-Gipfel am 17./18. März verweist. Berlin will jeden Eindruck von Torschlusspanik vermeiden – was angesichts der Behinderungen auf der Balkanroute und der sinkenden Zahl der Neuankünfte einfacher geworden ist. Unbeantwortet bleibt die Frage, ob die Türkei fähig und willens ist, dem Flüchtlings- und Migrantenstrom Einhalt zu gebieten. In einer internen Analyse der EU-Kommission ist davon die Rede, dass die Zahl der irregulären Übertritte der griechischen EU-Außengrenze nach wie vor zu hoch sei. Damit der Aktionsplan EU-Türkei umgesetzt werden kann, müsse die Türkei „signifikante Fortschritte“ bei der Senkung der Flüchtlingszahlen machen, urgiert Brüssel. Davutoğlus Forderungen sprechen eine andere Sprache: Aus Sicht Ankaras ist es die EU, die sich das Wohlwollen der Türkei mit Zugeständnissen erkaufen muss.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.03.2016)