Dass die deutsche Kanzlerin im Vorfeld des Ratstreffens einen neuen Türkei-Deal ausgehandelt hatte, stieß vielen EU-Partnern sauer auf. Auch die "geschlossene Balkanroute" reklamierte sie aus der Erklärung.
Wien/Brüssel. Was immer man von Angela Merkels Flüchtlingspolitik halten mag: Großes diplomatisches Geschick wird der deutschen Kanzlerin dieser Tage wohl kaum jemand nachsagen. Ihr Ziel – eine gesamteuropäische Lösung der Krise mit Einbindung der Türkei – kann, das ist Merkel bewusst, nur unter Beteiligung aller 28 Mitgliedstaaten Erfolg haben. Auf den gängigen EU-Entscheidungsprozess wollte sie sich zuletzt dennoch nicht verlassen. Jedenfalls beeindruckte es die Kanzlerin wenig, dass Ratspräsident Donald Tusk im Vorfeld des montäglichen Sondergipfels mit den diplomatischen Vertretern aus allen EU-Hauptstädten einen Abkommensentwurf ausgearbeitet hatte, der für die Staats- und Regierungschefs zur Unterzeichnung bereitlag.
Stattdessen schritt Merkel ihrerseits zur Tat. Am Abend vor dem Gipfeltreffen handelte sie in einer fünfstündigen Sitzung mit dem türkischen Ministerpräsidenten, Ahmet Davutoğlu, und dem niederländischen Premier, Mark Rutte – sein Land hat derzeit den Ratsvorsitz inne –, einen noch viel umfassenderen Deal mit Ankara aus (siehe Artikel oben). Gewiss, die „neuen Ideen“ der Türken kamen auch für Merkel überraschend. Doch viele EU-Partner konnten sich tags darauf des Eindruckes nicht verwehren, dass Berlin und Ankara versucht hatten, sie vor vollendete Tatsachen zu stellen.
Hitzige Diskussionen waren die Folge, mehrere Länder meldeten Widerstand gegen das Abkommen an. Schließlich wurde eine möglich Einigung – wieder einmal – vertagt. Für Merkel, deren Flüchtlingspolitik am kommenden Sonntag bei drei Landtagswahlen – in Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz und Sachsen-Anhalt – zur Disposition steht, sind das keine guten Nachrichten. Die Flüchtlingskrise aber nehme eben „keinerlei Rücksicht auf politische Termine“, stellte sie trocken fest.
Doch nicht nur die bilateralen Verhandlungen zwischen Merkel und Davutoğlu – die beiden hatten sich auch in den vergangenen Wochen mehrmals zu Zwiegesprächen in der Flüchtlingskrise getroffen – sorgten in Brüssel am Montag für Irritationen. Auch bei ihrem „Door step“ vor Beginn des Gipfels im Ratsgebäude hatte die Kanzlerin mehrere EU-Partner vor den Kopf gestoßen. Mit deutlichen Worten verneinte sie da eine Formulierung im vorbereiteten Gipfeldokument, dass die Balkanroute „geschlossen“ sei. Obwohl auch dieser Satz auf Botschafterebene akkordiert worden war, wurde er schließlich auf Geheiß Merkels und des griechischen Premiers, Alexis Tsipras, aus der Schlusserklärung gestrichen. Stattdessen heißt es in dem aktualisierten Dokument, bei den „irregulären Migrationsströmen entlang der Westbalkanroute“ sei „das Ende erreicht“.
Seehofer dankt Österreich
Ein dezidierter Freund der – von Österreich initiierten – verstärkten Grenzkontrollen auf der Balkanroute ist bekanntlich CSU-Chef Horst Seehofer. Der bayerische Ministerpräsident dankte Österreich nach einem Treffen mit dem Tiroler Landeshauptmann, Günther Platter, am Dienstag „ausdrücklich“ für seine neue Flüchtlingspolitik. Dass zuletzt weniger Flüchtlinge nach Deutschland kamen, liege nur an Österreich und den Balkanländern, betonte er. Die „wirksame Maßnahme“ zwinge Europa zu handeln. (aga)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2016)