EU/Türkei: Gipfel-Deal mit vielen Fallstricken

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Der Pakt mit Ankara ist mit zahlreichen Unsicherheiten behaftet. Besonders problematisch ist die avisierte Rückführung aller in Griechenland ankommenden Flüchtlinge in die Türkei.

Brüssel. Ist die Grundsatzeinigung der EU mit der Türkei zur Bewältigung der Flüchtlingskrise ein großer Wurf oder ein kleiner Schritt? Mit der Antwort auf diese heikle Frage werden sich die Staats- und Regierungschefs der EU bei ihrem nächsten Treffen am 17./18. März befassen. Während Deutschlands Bundeskanzlerin, Angela Merkel, in der Nacht auf Dienstag von einer „qualitativen Veränderung“ sprach, ortete der österreichische Vizekanzler, Reinhold Mitterlehner, gestern höchstens einen „theoretischen Fortschritt“.

In der Tat ist der Weg zu einem Abkommen noch weit. Es gilt, im Lauf der nächsten Tage ein regelrechtes Minenfeld zu überqueren. Die Tatsache, dass der Deal mit Ankara nicht bereits am Montag fixiert, sondern bis zum nächsten Gipfel aufgeschoben wurde, macht deutlich, dass sich die EU-Mitglieder in vielen Punkten uneins sind.

1 Darf die EU Neuankömmlinge pauschal in die Türkei zurückschicken?

Der wohl größte Stolperstein ist zugleich das Kernelement des avisierten Abkommens: die Rückübernahme „irregulärer Migranten“ (gemeint sind damit alle Neuankömmlinge) durch die Türkei. Zwar garantierte ein Sprecher der EU-Kommission gestern eine rechtlich wasserdichte Regelung, dieser Zusage steht allerdings Artikel 32 der Genfer Flüchtlingskonvention entgegen. Er besagt, dass „die Ausweisung eines Flüchtlings nur in Ausführung einer Entscheidung erfolgen darf, die in einem durch gesetzliche Bestimmungen geregelten Verfahren ergangen ist“. Eine pauschale Einstufung aller in Griechenland angekommenen Personen als „irreguläre Migranten“ wäre demnach rechtswidrig– nicht zuletzt aufgrund der Tatsache, dass die Türkei ihrerseits die Genfer Flüchtlingskonvention auf Europäer und Syrer, aber nicht auf andere Staatsangehörige (etwa Afghanen und Iraker) anwendet. Bedenken haben mittlerweile der UNO-Hochkommissar für Flüchtlinge, Amnesty International und Human Rights Watch geäußert. Man kann also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit davon ausgehen, dass die Praxis vor dem EuGH landen wird, sollten EU und Ankara den Pakt besiegeln.

2 Wie bringt man syrische Flüchtlinge geregelt in Europa unter?

Für jeden Syrer, der in Griechenland aufgegriffen und in die Türkei abgeschoben wird, will die EU einen syrischen Flüchtling aus der Türkei nach Europa kommen lassen. Das Problem: Alle bisherigen Versuche, Flüchtlinge geregelt in der EU unterzubringen, sind kläglich gescheitert. Von der im Vorjahr vereinbarten Umverteilung von insgesamt 160.000 Flüchtlingen aus Griechenland und Italien auf den Rest der EU hat man bis dato nicht einmal 1000 Fälle bearbeitet – insgesamt wurden seit vergangenem Juni rund 3400 Personen umverteilt. Und in der Türkei halten sich derzeit geschätzte 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien auf. In genau einer Woche will die EU-Kommission ihre Überlegungen zur Reform des europäischen Dublin-Asylsystems vorlegen. Dem Vernehmen nach dürften die Vorschläge der Brüsseler Behörde auch ein Quotensystem zur Verteilung der Schutzbedürftigen auf die gesamte EU umfassen. Doch eine permanente Quotenregelung lehnt nicht nur Osteuropa, sondern auch Frankreich ab, das bis 2018 lediglich 30.000Flüchtlinge aufnehmen will.

3 Sollen Türken ohne Visum in die EU einreisen dürfen?

Die wohl wichtigste Forderung aus türkischer Sicht ist die Aufhebung der Visumpflicht. Um in den Genuss der Visumbefreiung zu kommen, sollte die Türkei einen 72 Punkte umfassenden Forderungskatalog abarbeiten (es geht unter anderem um die Ausgestaltung der türkischen Pässe und Regeln für die Einreise in die Türkei). Ursprünglich wollte die EU-Kommission die Umsetzung der Vorgaben bis zum Herbst bewerten und dann eine Empfehlung abgeben. Von Deutschland unterstützt, forciert Ankara nun die Abschaffung der Visumpflicht bis Ende Juni. In den Couloirs des Brüsseler Ratsgebäudes Justus Lipsius hieß es, dass Frankreich am Montag vor einer solchen voreiligen Entscheidung gewarnt habe.

4 Wer kommt für die Versorgung der Flüchtlinge in der Türkei auf?

Ursprünglich wollte die EU bis Ende 2017 drei Mrd. Euro nach Ankara überweisen. Für 2018 fordert die türkische Regierung nun weitere drei Milliarden zur Versorgung der Flüchtlinge im Land. Woher das Geld kommen soll, ist nicht klar – zur ersten Tranche hat Brüssel eine Milliarde Euro beigesteuert – und damit alle Spielräume im EU-Haushalt ausgereizt. Den Rest müssen die Mitgliedstaaten auftreiben. Und die bisherigen Aussagen aus Ankara deuten darauf hin, dass die Türkei auch nach 2018 einen jährlichen Zuschuss von drei Mrd. Euro erwartet.

5 Wie soll Europa auf autoritäre Tendenzen in der Türkei reagieren?

Dem Vernehmen nach wollten die Staats- und Regierungschefs der EU die Einschränkung der Presse- und Meinungsfreiheit in der Türkei ursprünglich nicht kommentieren – erst Italiens Premierminister, Matteo Renzi, soll einen Verweis auf die Lage der Medien in die Gipfelerklärung hineinreklamiert haben. Berlin möchte die Angelegenheit am liebsten unter den Teppich kehren: Als Merkel Montagnacht auf die staatlichen Zwangsmaßnahmen gegen die regierungskritische Zeitung „Zaman“ angesprochen wurde, lautete ihre Antwort: „Unbeschadet davon tut die Türkei viel zur Unterbringung der Flüchtlinge.“

AUF EINEN BLICK

Der EU-Gipfel hat sich auf keinen Deal mit der Türkei einigen können. Ein Grund ist, dass sich nach wie vor Mitgliedstaaten weigern, syrische Flüchtlinge in geordneter Weise aufzunehmen. Ein weiterer Grund liegt in der Vorbereitung des Gipfelbeschlusses. Einige Staats- und Regierungschefs fühlten sich von der vorbereiteten Vereinbarung zwischen der deutschen Bundeskanzlerin, Angela Merkel, und dem türkischen Ministerpräsidenten, Ahmet Davutoğlu, vor vollendete Tatsachen gestellt. Am 17. und 18. März muss deshalb bei dem regulären März-Gipfel in Brüssel erneut über den Deal beraten werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.03.2016)

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