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(c) Die Presse (Christina Lukawinsky)
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1919 wurde der Adel in Österreich aufgehoben. Und wie verborgen ist er heute, der „verborgene Stand“? Über die Wandelbarkeit eines vermeintlichen Fossils: Eine Studie gibt Auskunft.

Wer der öffentlichen Berichterstattung Glauben schenkt, bringt wahrscheinlich Prinzen nicht mehr mit romantischen Märchenwelten in Verbindung. Als naive, dümmliche, ja sogar korrupte Charaktere treten sie in der Öffentlichkeit kurz und allzu oft ungewollt in Erscheinung.

So sorgte Karl Habsburg-Lothringen für Aufregung, als er vor Jahren das Abtreibungsmedikament Mifegyne mit der Todesstrafe verglich. Der angebliche Waffenlobbyist Alfred Mensdorff-Pouilly, auf Grund des Verdachts der Geldwäsche im Zusammenhang mit untitulierten Zahlungen des britischen Waffenkonzerns „British Aerospace Systems“ in U-Haft genommen, lässt nach der Entlassung die Gelegenheit nicht aus, dem ATV-Kamerateam von „High Society“ mitzuteilen, dass der „Häfn“ seiner Gesundheit durchaus gut getan hätte – zehn Kilo habe er bewusst verloren. Prinz Ernst August von Hannover, dank des Dauerstreits mit Prinzessin Caroline von Monaco und diversen Eskapaden ein Dauerbrenner für die internationale Klatschpresse, macht das sich langsam aufdrängende Bild vom „Prinzen Peinlich“ komplett. Prägen diese kabarettreifen Inszenierungen die öffentliche Meinung über den Adel? Werden sie relativiert durch Beispiele des Erfolgs, wie etwa durch die geläuterte Punkqueen Fürstin Gloria von Thurn und Taxis, die den Familienkonzern aus gigantischen Schulden befreite? Wir wissen es nicht. Repräsentative Meinungsumfragen fehlen. Interessant bleibt aber, dass immer noch von „dem Adel“ gesprochen wird. Der Begriff hat anscheinend nicht wie der alte Frack so gut wie ausgedient. Wurde der Adel aber nicht 1919 offiziell in Österreich abgeschafft?

„Das Volk hat durch seine Vertreter die Regierung übernommen. Ich verzichte auf jeden Anteil an den Staatsgeschäften. Gleichzeitig enthebe Ich Meine österreichische Regierung ihres Amtes. Möge das Volk von Deutschösterreich in Eintracht und Versöhnlichkeit die Neuordnung schaffen“: Diese Passage, die stark an die österreichische Verfassung erinnert („Alles Recht geht vom Volk aus“), stammt aus der das Ende der Habsburgermonarchie einleitenden Abdankungserklärung von Kaiser Karl. Kurz darauf, im April 1919, erließ die Provisorische Nationalversammlung der Republik Deutsch-Österreich das „Gesetz über die Aufhebung des Adels, der weltlichen Ritter- und Damenorden und gewisser Titel und Würden“. Für die Führung von Adelstiteln wurde anfangs gar eine Geldstrafe von 20.000 Kronen angesetzt.

Im deutschen Sprachraum ist dieses rigide und andauernde Verbot einmalig. In Deutschland werden heute die Titel als Teil des Familiennamens geführt. Auch in der Schweiz führen die Behörden den Partikel „von“ weiterhin in den Personalakten an. In Österreich setzten bekanntlich kompensatorisch eine absurd anmutende Fixiertheit auf akademische Titel und ein Ausbau des „letzten Mohikaners“ unter den Adelsprädikaten, des Hofrats, ein.

Der Name ist und war elementarer Bestandteil adeliger Identität. Das weist die in der Tradition von Pierre Bourdieu arbeitende Adelshistorikerin Monique de Saint Martin (École des Hautes Études en Sciences Sociales) in ihren klassischen Schriften zur Soziologie des Adels nach. Der Name ist das, was den Nachkommen aristokratischer Familien erlaubt, weiter an das Bestehen eines wesentlichen Unterschieds von den anderen zu glauben, selbst wenn es in ihrer Umgebung, etwa in Großstädten, anscheinend nichts mehr gibt, was sie von ihren bürgerlichen Nachbarn trennt.

Die große Bedeutung des symbolischen Kapitals für die Konstruktion einer adeligen Identität lässt besser verstehen, warum die zuerst auf heftige politische Ablehnung stoßende und letztlich erst 2006 als Verein zugelassene „Vereinigung der Edelleute in Österreich“ vor den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ziehen will, um das Adelsverbotsgesetz in seiner derzeitigen Fassung zu Fall zu bringen. Eine zentrale These der österreichischen Historikerin Gudula Walterskirchen ist, dass das Adelsaufhebungsgesetz nicht mit dem Ende der Aristokratie gleichgesetzt werden kann. Der Adel lebe als „verborgener Stand“ seine alten Werte weiter: Die große Bedeutung der Familie, die Weitergabe des Ererbten, elaborierte Manieren, ein standesgemäßer Beruf, das Hochhalten der Religion, aber auch exklusive Zirkel würden Kontinuität erlauben.

Nur zwei seien hier erwähnt: der „St. Johanns Club“, der unter der Patronanz des Malteser-Ordens 1954 gegründet wurde und insgesamt 760 Mitglieder, davon etwa 500 Adelige, umfassen soll; und der 1867 ins Leben gerufene „Jockey Club“, dessen Präsident im Hofgotha stehen muss. Laut Statuten ist der Vereinszweck die Förderung der Vollblutzucht und die Pflege des geselligen Verkehrs. Weitere Gründe könnten angeführt werden, warum das Adelsverbot nicht eine Identitätskrise hervorrufen sollte: die starken Allianzen mit Mitgliedern ausländischer Aristokratien oder die gesetzlich vorgeschriebene Denkmalpflege von Burgen und Schlössern, die Solidarität, oder in den Worten von Saint Martin, einen „Korpsgeist“ unter den Adeligen entstehen lässt. Gibt es den österreichischen Adel als informellen Stand tatsächlich noch?

Nicht selten fehlt soziologischen Beschreibungsversuchen die empirische Fundierung. Am europäischen Hochschulinstitut in Florenz (European University Institute, EUI) wurde deswegen ein „experimentum crucis“ durchgeführt. An der „Drosophila“ der soziologischen Adelsforschung, dem niederländischen Adel, wurde vor Jahren ein gesamteuropäischer Trend festgestellt. Während des 20. Jahrhunderts wechselte der Adel beruflich aus den öffentlichen Sektoren (Beamtentum, Politik, Militär) in die Privatwirtschaft über. Gleiches ist für Österreich festzustellen. Wenn der Adel nun im Verborgenen weiter existiert, dann tut er dies vor allem in der österreichischen Wirtschaftselite. Um die Rolle des Adels innerhalb der österreichischen Wirtschaftselite eindeutig dokumentieren zu können, wurde eine erste, groß angelegte Studie durchgeführt. Das österreichische Firmenhandbuch diente dazu, 16.642 Manager (Vorstand, Aufsichtsrat, Geschäftsführung) aus den 5000 größten österreichischen Unternehmen zu erfassen und auf ihr adelige Herkunft hin zu untersuchen. Alle möglichen Adelsvertreter wurden in den 127 Bänden des Genealogischen Handbuchs des Adels nachgeschlagen. Da eine Eintragung in diesem Werk aus eigener Initiative erfolgt und damit Vollständigkeit nicht garantiert ist, wurden zusätzliche Recherchen angestellt.

Das Ergebnis: Lässt man ungarisch-österreichische Adelsmitglieder unberücksichtigt, so stammen 0,9 Prozent der österreichischen Wirtschaftselite aus den rund 180 österreichischen Adelsfamilien (11.000 Mitglieder). Das bedeutet, dass man Adelige in Österreich sechsmal wahrscheinlicher innerhalb der Kreise österreichischer Wirtschaftseliten antreffen kann als außerhalb dieser. Die entscheidende Frage, ob dieses Abschneiden sich stark von jenem des Großbürgertums unterscheidet, kann nicht beantwortet werden. Im Gegensatz zu den Niederlanden fehlen für Österreich die für den Vergleich notwendigen Namensregister großbürgerlicher Familien. Allgemein wird aber wohl festgehalten werden können, dass der Adel fester Bestandteil der österreichischen Wirtschaftselite ist.

Eingehendere Analysen zeigen mäßig ausgeprägte Ämterhäufungen in den Wirtschaftsbranchen Finanzen und Dienstleistungen auf. Insgesamt sind Adelige eher in Unternehmen mit einem österreichweit überdurchschnittlichen Umsatz anzutreffen. In den Firmen haben die Adeligen nahezu gleichermaßen Kontroll- als auch geschäftsführende Funktionen. Auffallend ist ihre Ausbildungsüberlegenheit gegenüber dem Rest der Elite. Etwa doppelt so häufig können sie einen Doktor als Bildungsabschluss vorweisen.

Bleibt die Frage, ob Adelige versprengte Mitglieder der Wirtschaftselite darstellen. Die Visualisierung von personellen Verbindungen zwischen österreichischen Unternehmen zeigte, dass in den seltensten Fällen formelle Netzwerke zwischen Firmen existieren, die von Adeligen geleitet werden. Die „Old boys networks“-These ist auf Adelige nicht anwendbar. Jedoch arbeiten Adelige gerne in Dyaden innerhalb desselben Unternehmens zusammen. Um nur drei Beispiele zu nennen: Philipp Meran und Franz Harnoncourt für die Grazer Wechselseitige, Filip Sternberg und Emanuel Mensdorff-Pouilly für Securitas, Georg Starhemberg und Niklas Altgraf Salm-Reifferscheidt für die Allgemeine Sparkasse Oberösterreich. Adelsränge scheinen ganz an Bedeutung verloren zu haben. Die Spitzen der Gesellschaft werden gleichermaßen von Fürsten, Grafen und niederem Adel erklommen.

Urbanisierung, Wirtschaftswachstum, neue technische Kommunikationsformen, politische Beteiligung der Bürger und demokratische Regierungsformen führen zur Angleichung der Startchancen aller Individuen, zur Aufwertung von Leistung und zum Verfall des Prinzips der Zuschreibung, so Modernisierungstheoretiker. Die Frage, was man denn für ein Geborener sei, sollte demnach zum Verständnis unserer Gesellschaft nahezu so wichtig sein wie die Frage, ob man im Herbst oder im Frühling geboren wurde. Natürlich ist diese Darstellung stark vereinfachend. Dennoch wird man zugestehen müssen, dass das Beispiel des „Grafen Erfolgreich“ zumindest einfach gestrickte Modernisierungstheorien auf eine harte Probe stellt. Wie kommt es denn, dass eine Gesellschaftselite, die hochoffiziell abgeschafft wurde, wieder wesentliche Führungspositionen einnimmt? Soziologen ziehen zur Erklärung das Wortungeheuer „Rekonversionsstrategien“ heran. Symbolisches und soziales Kapital (Name, Schloss, dauerhaftes Netz von Beziehungen) wurden erfolgreich in ökonomisches oder Bildungskapital umgewandelt. Rekonversion ist eine Strategie der Anpassung. Anscheinend haben Adelige in ganz Europa erfolgreich neue (Berufs-)Wege gesucht, die ihnen eine sich gewandelte Gesellschaft bot.

Sollte man deswegen von einem „verborgenen Stand“ sprechen, also von einer Gruppe die aufgrund der Vorbildwirkung der Ahnen, einer anhaltenden aristokratischen Gesinnung (Ehrlichkeit, Anstand) und eines spezifischen Erziehungsideals (Strenge) zumindest im Geiste weiterexistiert? Vielleicht. Richtig überzeugend wäre die These vom „verborgenen Stand“ erst, wenn sie (institutionalisierte) Interaktionsstrukturen als Argument heranziehen würde.

Zuletzt taten dies Sozialwissenschaftler, um den teilweise systematisch organisierten Widerstand Adeliger gegen das Hitler-Regime zu ergründen. Solidarität und reger Kontakt untereinander machten Vertrauen zueinander und somit Aktionen gegen die herrschende Klasse möglich. Die sozialen Kontakte zwischen Adeligen von heute sind hingegen Terra incognita. Hinweise jedoch darauf, dass gute Bildung und feine Manieren Adeliger in unsere Gesellschaft zumindest von „denen da oben“ geschätzt werden, haben wir. Eine Reanalyse einer vom Elitensoziologen Michael Hartmann erstellten repräsentativen Stichprobe von nach 1945 promovierten Führungspersonen der deutschen Wirtschaft bestätigt der Tendenz nach unsere Ergebnisse, geht jedoch inhaltlich stärker in die Tiefe. Wer aus dem Adel kommt, steigt auch in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts in der deutschen Elite leichter auf als ein Angehöriger des Großbürgertums.

Diese ungleichen, systematisch diskriminierenden Startpositionen für Berufskarrieren in der Wirtschaft sind auch für die bürgerlichen Niederlanden nachgewiesen worden. Wie erklärt man sie? Da Seilschaften zumindest im österreichischen Fall keine besondere Bedeutung zukommen dürfte, bleibt das Argument von den feinen Distinktionen (Pierre Bourdieu) übrig. Der Handkuss und das Schönbrunnerdeutsch mögen ausgedient haben. Eine gepflegte Ausdrucksweise, elegantes Auftreten, Bildung, Internationalität und ein besonders geartetes, aber moderates Selbstvertrauen scheinen jedoch ein berufliches Erfolgsrezept in der globalisierten Moderne zu sein. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2009)

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