Herzog Jakobs Traum

Wer mit dem Auto in der lettischen Hafenstadt Ventspils ankommt, sieht als Erstes das rot leuchtende Neonschild des Warenhauses „Tobago“. Auf der Insel Tobago wiederum tanzen Exil-Letten lettische Volkstänze. Wie die Karibik an die Ostsee kam – und umgekehrt.

Wer mit Bus oder Auto in der lettischen Hafenstadt Ventspils ankommt, sieht als Erstes das rot leuchtende Neonschild des Warenhauses „Tobago“ emporsteigen. Warum gerade „Tobago“? Wer weiß, dass er sich in Kurland befindet und dass von diesem Hafen aus der kurländische Herzog Jakob Kettler im 17. Jahrhundert die Kolonialisierung der karibischen Insel Tobago leitete, ist sicher nicht durch den Direktor des Schlossmuseums darüber informiert. Auf unsere Anfragen hat er jedenfalls monatelang nicht reagiert. Unterwegs zum Schloss sehen wir das Ausflugsboot „Herzog Jakob“ munter Richtung Flussmündung steuern, aber dabei wird es auch bleiben. Mehr Spuren der überseeischen Kolonialpolitik eines winzigen Ostseeanrainers werden wir in dieser weitläufigen, etwas spröden Stadt an den Dünen der Ostseeküste nicht finden.

Im Schlossmuseum entdecken wir nach vier Stockwerken Stadtgeschichte mit archaischen Münzen, mittelalterlichen Ausgrabungen und Relikten aus dem Zweiten Weltkrieg einige wenige Zeilen auf ein paar Schautafeln, noch dazu im Turmzimmer, zu dem man sich auf Wendeltreppen hinaufzwingen muss. Der Direktor ist nicht da, und einen für denselben Abend telefonisch vereinbarten Termin lässt er, wir hatten es fast erwartet, platzen. Macht nichts, wir gönnen uns den gemütlichen Schlosskeller, wo unerwartet eine umfangreiche Cocktailkarte etwas karibische Stimmung vermittelt. – Jakob Kettlers Großvater Gotthard, der letzte Deutschordensmeister in Livland, hatte die Weichen gestellt für den kurzen, aber ereignisreichen Auftritt Kurlands auf der Weltbühne durch seinen Enkel. Im Jahre 1562, als der Orden zwischen den Nachbarstaaten Polen, Russland und Schweden zerrieben wurde, hatte er sich durch geschickte Diplomatie den südwestlichen Teil seines ehemaligen Herrschaftsgebietes, das „Herzogtum Kurland und Semgallen“ als Abfindung gesichert. Herzog Jakob (1610 bis 1682), formell gesehen nur ein Vasall des polnischen Königs, verfolgte eine bemerkenswert eigenständige Politik, indem er alles daransetzte, sein rückständiges, agrarisch geprägtes Herzogtum zu einem Wirtschaftszentrum nach niederländischem Vorbild umzugestalten. Neben der Errichtung moderner Manufakturen und dem Ausbau der Handelsflotte nahm – gemäß dem Merkantilismus seiner Zeit – der Erwerb überseeischer Kolonien einen wichtigen Platz in seinem Reformprogramm ein.

Das langfristige Ziel Jakobs war ein Handelsstützpunkt in Indien, um sein Land an dem äußerst profitablen Handel mit Gewürzen und anderen exotischen Gütern teilhaben zu lassen. Als ersten Schritt auf dem Seeweg um Afrika erbaute eine kurländische Expedition 1651 ein Fort an der Mündung des Gambia-Flusses in Westafrika. Die Insel, auf der sich die Kurländer niederließen, trägt bis heute den Namen „James Island“ nach dem Herzog und zählt seit 2003 zum Weltkulturerbe der Unesco.

Im Jahre 1654 konnte Jakob seinem kleinen Kolonialreich eine weitere Besitzung einverleiben: Nach einigen vergeblichen Versuchen setzte die Fregatte „Das Wappen der Herzogin von Kurland“ 124 Soldaten und 80 Siedlerfamilien an der Nordküste von Tobago an Land, das unter dem Namen „Neu-Kurland“ in Besitz genommen wurde. Mit einem Stützpunkt in Afrika und einem in der Karibik hoffte der Herzog nun, sich am Sklavenhandel beteiligen zu können und dadurch sein Indienvorhaben zu finanzieren. Auf der karibischen Insel sollten Plantagen nach dem Vorbild der größeren europäischen Kolonialmächte entstehen, wo die Sklaven aus Gambia Tabak, Indigo und Zuckerrohr anbauen würden.

Schon nach vier Jahren (1658) wurde aber Kurland in den schwedisch-polnischen Krieg gezogen, der Herzog selbst geriet in Gefangenschaft, sein Kolonialbesitz ging verloren: Unbezahlte meuternde Söldner übergaben Tobago 1659 an die Niederländer, die Stützpunkte am Gambia-Fluss wiederum wurden von England besetzt. Der als zunehmend stur geltende Herzog versuchte zwar, nach seiner Rückkehr aus der Gefangenschaft seine Besitzungen zurückzuerlangen, und entsandte bis zu seinem Tod immer wieder Soldaten und Siedler, die aber nach kurzer Zeit auf Tobago durch tropische Krankheiten, das ungewohnte Klima und nicht zuletzt durch den Widerstand der indigenen Bevölkerung zugrunde gingen. Kurland hielt trotzdem seinen Anspruch auf Tobago bis Mitte des 18. Jahrhunderts aufrecht und ernannte unverdrossen Titulargouverneure, die die Insel nie zu Gesicht bekamen. De facto war die Insel aber schon ab den 1690er-Jahren aus europäischer Sicht Niemandsland und wurde ihren indigenen Bewohnern und unabhängigen Piraten überlassen, bis sie Anfang des 19. Jahrhunderts an Großbritannien fiel.


Vor der Reise nach Tobago
redeten wir uns zu große Hoffnungen aus: Die kurländische Episode musste ja dort von späteren Kolonialisierungen überlagert worden sein. Gab es dort heute überhaupt Interesse dafür? Inspirierende Begegnungen mit Kollegen an der University of the West Indies und im Nationalarchiv in Port-of-Spain (wo wir in Jesma McFarlane eine Wissenschaftlerin fanden, die unsere Begeisterung für die wenigen kurländischen Relikte auf Tobago teilte) bauten uns auf. Irgendwann standen wir vor der prachtvollen Bucht „Great Courland Bay“ an der Nordküste, wo die Kurländer 1654 an Land gegangen waren und ihre Siedlung Jacobusstadt gegründet hatten. Noch heute trägt hier ein Feinkostgeschäft den Namen „Courland“, und am Ende der Bucht, in der Stadt Plymouth, reckt sich ein hässliches Denkmal in den Himmel, 1978 den „bold, enterprising and industrious Courlanders from faraway Latvia“ gewidmet.

Man erzählte uns, dass am nahen Strand der Bucht regelmäßig „Kurländer-Treffen“ mit hauptsächlich exillettischer Beteiligung aus den USA organisiert werden, deren Teilnehmer in den Mittsommernächten lettisches Brauchtum in die Karibik bringen. Mit lettischen Volkstänzen an karibischen Stränden zelebrieren sie ihre Interpretation der kurländischen Kolonialgeschichte.


Da Kurland zu Jakob Kettlers Zeiten eine schmale deutschsprachige Oberschicht und eine Mehrheitsbevölkerung aus lettischen Leibeigenen besaß, konnten Letten und Deutschbalten die kolonialen Errungenschaften des Herzogtums Kurland in gleicher Weise für sich beanspruchen. Im 19.Jahrhundert waren es vor allem deutschbaltische Literaten, die die Erinnerung an das kurländische Kolonialabenteuer hochhielten. Zu einer Zeit, als das wilhelminische Kaiserreich aggressiv nach Kolonialbesitz strebte, konnte sich das patriotische Bildungsbürgertum sehr für einen „deutschen Fürsten“ wie Jakob Kettler begeistern, der bereits 200 Jahre zuvor in Übersee aktiv gewesen war.Als Lettland 1918 erstmals seine Unabhängigkeit erlangte, wurde Tobago wiederum zu einem identitätsstiftenden Symbol für die junge Republik. Die lettischen Leibeigenen des kurländischen Herzogs hatten zwar nichts zu sagen gehabt, aber sie waren es, wenn man den lettischen Patrioten der Zwischenkriegszeit glauben mochte, die die Kolonie auf Tobago mit ihrer Hände Arbeit aufgebaut hatten.

In Büchern, Opern und Theaterstücken wurden die Taten der lettischen Pioniere gefeiert, ein Panorama blühender Kolonien, tatkräftiger Siedler und mächtiger Flotten unter kurländischem Banner entworfen, das wenig mit der tatsächlichen prekären Lage der Kolonien und dem entbehrungsreichen Leben ihrer Bewohner zu tun hatte. Nationale Kreise in Lettland gingen während der Zwischenkriegszeit sogar so weit, die „Rückgabe“ der nunmehr britischen Insel Tobago zu fordern.

Beide Seiten, Deutschbalten und Letten, waren also geneigt den Beitrag ihrer eigenen Vorfahren an der kurländischen Kolonialgeschichte zu betonen – dass die kolonialen Ambitionen des Herzogs primär von skandinavischen Söldnern und holländischen Seeleuten in kurländischem Dienst getragen wurden, störte dabei nicht.


Im Bus Richtung Jelgava,wo man uns mehr Reminiszenzen aus der Zeit Jakob Kettlers in Aussicht gestellt hat als in Ventspils, überlegen wir, was „Kurland“ als Region heute bedeuten mag, und kommen zu keinem Ergebnis. Die exillettischen Aktivitäten in Tobago sind hier jedenfalls vor Kurzem in den Medien belächelt worden. Manche im neuen Staat möchten wohl die deutschbaltische Kolonialgeschichte nicht so wichtig nehmen. Das könnte auch das ausweichende Verhalten des Museumsdirektors in Ventspils erklären. Die Stadt Jelgava würdigt dafür Jakob Kettler und das Kurländische umso mehr. Nach einem vom Direktor selbst begeistert geführten Besuch des großteils Kurland gewidmeten Stadtmuseums (unter anderem mit unserem Jakob in voller Größe samt einer Landkarte von Tobago) studieren wir die Herzöge und ihre Verwandtschaft, die in der engen Gruft des auf den alten Burgruinen aufgebauten Stadtschlosses aufgereiht sind. Das Abendessen nehmen wir stilecht im Restaurant „Tobago“ ein.

In Riga begegnen uns schließlich noch ein prominentes Casino und eine moderne Wohnhausanlage am Stadtrand, die sich nach der alten kurländischen Kolonie „Tobago“ nennen. Piratenromantik. Und Kurland heute? „Wir Kurländerinnen sind fröhlich und arbeitsam“, hatte eine Assistentin gesagt. Ja, dazu müssen wir noch zurück. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.07.2009)

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