Immer mehr Flüchtlinge verlassen das Lager nahe Mazedonien und fahren zurück nach Athen. Während es an der Grenze meist Iraker und Syrer sind, harren Pakistani, Marokkaner und Algerier bei den Schleppern in Evzoni aus. Dort sucht man vergeblich nach der Polizei.
Idomeni. Die Schlange an der Essensausgabe im Flüchtlingslager Idomeni ist kürzer als in den vergangenen Tagen. Gar keine Schlange gibt es mehr vor dem Wohncontainer, in dem griechische Beamte bis Mittwoch die Papiere der Flüchtlinge prüften und abstempelten. Stattdessen befindet sich dort ein Polizeikordon, aber hier wird nichts mehr geprüft. An dieser Grenze wird niemand mehr durchgelassen. Dass weniger Menschen zu sehen sind, mag am Regen liegen, der seit drei Tagen und Nächten unaufhörlich fällt.
Oder es liegt an den Bussen. „Nein, wir sind voll“, sagt der Fahrer zu einer Gruppe von Kurden. „Im Lager steht noch ein Bus, versucht es da. Aufbruch in einer Stunde.“ Die Kurden wollen nach Athen. Zurück in ein reguläres Flüchtlingslager. Weil sie eingesehen haben: Hier in Idomeni werden sie nicht über die Grenze nach Mazedonien kommen.
Seit Montag ist alles dicht, und auch die Grenzen dahinter. Immer mehr Menschen verlassen die Region, als neue dazukommen. Etwa 600 Menschen, unter ihnen viele Familien, hatten bereits am Donnerstag ihre Sachen gepackt. In der Nacht auf Freitag reisten weitere 200 Menschen ab.
Wer um jeden Preis weiter nach Deutschland will, dem bleibt nur noch der Schlepper. Die Zentrale der Schmuggler ist ein kleines Hotel etwa zwei Kilometer außerhalb von Idomeni, am Ortseingang eines Dorfes namens Evzoni. Hotel Hara heißt es. Man erkennt es von Weitem an den vielen Zelten und Flüchtlingen. Auf dem Parkplatz, im Garten rund um das Gebäude, auf dem Brachland ringsum. Zehn Zimmer hat das Etablissement, aber viele Hundert Menschen harren hier aus.
Zu Fuß in den Iran
Es ist eine andere Mischung als in Idomeni. Im Lager: Kurden, Syrer, Iraker. Hier: Pakistani. Marokkaner. Algerier. Wirtschaftsmigranten, die nicht vor Krieg oder Verfolgung fliehen, sondern auf der Suche nach einem besseren Leben sind. Kein Land in Europa ist mehr bereit, sie aufzunehmen. Meist sind es junge Männer, ohne jede Chance, legal ans Ziel ihrer Träume zu kommen. „Ja, jeden Abend kommen die Schlepper“, sagt Hassan Roza. „Gestern nahmen sie sechs Leute mit.“ Seltsam – das Lager in Idomeni ist voller Polizei. Aber in diesem Hotel, weithin berüchtigt als Schlepperzentrale, ist kein Uniformierter zu sehen.
Vor sechs Monaten brach Hassan aus Pakistan auf. „Ich bin Schiit“, sagt er, „für uns ist das Leben dort schwer.“ Über die iranische Grenze ging die Reise, zu Fuß. Dann die Türkei, das Meer, und jetzt ist er hier. Mit drei Landsleuten sitzt er in einer Ecke des Hotels, sie tun, was sie jeden Tag tun: Zeit totschlagen. Sie können nicht weiter, sie können nicht zurück. Griechenland kann sie nicht nach Hause deportieren, weil Pakistan sie nicht haben will. Sie können keine Rückreise buchen, weil sie weder Geld noch Pässe haben. Sie können nicht Asyl beantragen, weil sie als Wirtschaftsmigranten gelten. Sie stecken fest. Die Schlepper, so sagen sie, seien Afghanen. Für 1200 Euro versprechen sie, einen über die Grenze bis nach Belgrad zu bringen. Dann übernehmen andere Schleuser.
Am Dienstag, sagt Hassan, gab es hinter dem Hotel eine Messerstecherei. Zwei afghanische Schlepper gingen einander an die Gurgel, „der eine dachte, dass der andere ein Polizeispitzel ist“, meint Hassan. Keiner der Migranten im Hotel gibt zu, mit den Schleppern reisen zu wollen. „Zu gefährlich.“ Und sie haben nicht das Geld dafür. „Wir warten, ob die Grenze nicht doch wieder geöffnet wird.“ Aber sie können genau beschreiben, wie die Reise theoretisch laufen würde. Zunächst nachts zu Fuß über die grüne Grenze. Angeblich ist die erste Station auf der anderen Seite der Grenze das mazedonische Dorf Selemli. Dort aber sagen die Anwohner, dass seit einer Woche keine Menschen mehr kommen würden. Dafür seien überall Polizei und Militär zu sehen.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2016)