100 Tage vor dem britischen EU-Referendum ringen beide Seiten mit der Mobilisierung ihrer Anhänger. Nun will sich sogar US-Präsident Obama einmischen.
London. Genau 100 Tage sind es noch, bis die Briten in einer Volksabstimmung über die EU-Zukunft ihres Landes entscheiden werden. In den Umfragen liegen die Befürworter des Verbleibs derzeit knapp voran, aber niemand kann bisher einen klaren Trend ausmachen. Die Offensive zum Start der Kampagnen brachte weder EU-Anhängern noch EU-Gegnern einen entscheidenden Durchbruch, und nun rüsten sich beide Lager für einen Stellungskrieg. Es wird eine Materialschlacht werden, am Ende wird der längere Atem entscheiden.
Da inhaltlich bereits in den ersten Tagen alles gesagt wurde, setzen beide Seiten auf Namen. In der Vorwoche titelte die Boulevardzeitung „The Sun“, die Queen würde den Brexit unterstützen. Der Buckingham Palace war „not amused“, immerhin ist das Königshaus zur politischen Neutralität verpflichtet. Das Dementi des EU-feindlichen Justizministers Michael Gove, nicht die Quelle der Geschichte gewesen zu sein, fiel so zweideutig aus, dass es den EU-Gegnern wohl mehr geschadet als genutzt hat. Mit dem Namen der Königin scherzt man eben nicht.
Gefeuerter TV-Star soll helfen
Dafür durften die EU-Befürworter am Wochenende den TV-Präsentator Jeremy Clarkson in ihren Reihen begrüßen. „Ist es nicht besser zu bleiben, und das ganze verdammte Ding zum Funktionieren zu bringen“, fragte Clarkson die Leser seiner wöchentlichen Kolumne in der „Sunday Times“. Als – mittlerweile gefeuerter – Star der Motorshow „Top Gear“ erreicht er ein (vorwiegend) männliches Millionenpublikum, das sich an politisch unkorrekten Sagern erfreut. Clarkson kann, so die Hoffnung, dem Populisten Nigel Farage Wähler abnehmen, die bei Premier David Cameron den Fernseher abdrehen.
In Schottland nährt das nahende EU-Referendum indes Tendenzen, das eigene Schicksal in die Hand nehmen zu wollen. First Minister Nicola Sturgeon sprach auf der Frühlingskonferenz der Scottish National Party zwar davon, dass ihre Partei „unter allen Umständen für den Verbleib in der EU kämpfen wird“. Zugleich versprach sie den Delegierten aber, die Unabhängigkeit bleibe „unser wunderbarer Traum“, den es zu erfüllen gelte.
Während in Schottland bereits der Wahlkampf um die Parlamentswahl am 5. Mai in vollem Gang ist, zeigt sich die britische Innenpolitik durch das EU-Referendum vollkommen lahmgelegt. Wichtige, aber möglicherweise schwierige, Vorhaben werden auf die lange Bank geschoben. Ein Aktionsplan gegen Übergewicht, mit dem die mächtige Lebensmittelindustrie herausgefordert worden wäre, liegt ebenso auf Eis wie die überfällige Pensionsreform, die Tory-Stammwähler in der älteren Generation verärgert hätte. Wenn Schatzkanzler George Osborne morgen, Mittwoch, das Budget vorstellt, hat er keine Hasen mehr, die er aus dem Hut zaubern kann.
Verärgert zeigen sich EU-Gegner auch über angebliche Einmischung aus dem Ausland. Im April wird US-Präsident Barack Obama in London erwartet. Er hat bereits mehrfach klargemacht, dass er Großbritannien weiter in der EU sehen will. Die EU-Gegner sprechen von „Project Fear“ und werfen den EU-Anhängern Angstmacherei vor. Demgegenüber erklärt Osborne: „Wir stehen für das Projekt Hoffnung, und das heißt ein starkes Großbritannien in einem starken Europa.“
AUF EINEN BLICK
Brexit. Das Lager der EU-Befürworter und jenes der Gegner haben sich formiert. Industrielle, Wissenschaftler und Banker engagieren sich für ein Ja zur Mitgliedschaft. Das Nein-Lager setzt auf populäre Politiker wie den Londoner Bürgermeister, Boris Johnson. Dass sich Barack Obama in die Debatte einschaltet, kritisieren sie als Einmischung. Der US-Präsident will im April in London für den Verbleib in der EU werben.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.03.2016)