Latein, ein Lieblingsfach

Lateiner Karlheinz Töchterle springt für seine frühere Studentin Sarah Niedertscheider als Lehrer in der 7b des Akademischen Gymnasiums in Wien ein. Was viele nicht wissen: Er hat Lehramt studiert – und sogar ein verkürztes Praktikum in der Schule absolviert.
Lateiner Karlheinz Töchterle springt für seine frühere Studentin Sarah Niedertscheider als Lehrer in der 7b des Akademischen Gymnasiums in Wien ein. Was viele nicht wissen: Er hat Lehramt studiert – und sogar ein verkürztes Praktikum in der Schule absolviert. Die Presse
  • Drucken

Erstmals seit vier Jahrzehnten steht Ex-Minister Karlheinz Töchterle vor Schülern. Über humanistische Bildung und den Wandel des Lateinunterrichts.

Letztlich wird die Lateinstunde, für die Karlheinz Töchterle im Akademischen Gymnasium einspringt, eher zu einer Philosophieeinheit. Denn wirklich übersetzt haben wird der Ex-Wissenschaftsminister und Lateiner mit den Schülern der 7b am Akademischen Gymnasium in Wien am Ende der Stunde nur ein Dutzend Sätze. Dafür erfahren sie einiges über die innere Einstellung der Stoiker, über die Epikureer und über Platon. Nun, ganz überraschend ist das nicht: Dass Latein für ihn viel mehr ist als bloßes Übersetzen, hat Töchterle bereits vor seiner Stunde angekündigt.

Es ist nicht das erste Mal, dass der 66-Jährige wie an diesem Tag (auf Anregung von Rektorenchefin Sonja Hammerschmid) vor einer Schulklasse steht – aber es ist ziemlich lang her. Als er nach seinem Doktorat an der Uni Innsbruck sein Lehramtsstudium in Latein und Deutsch abschloss, absolvierte Karlheinz Töchterle sogar ein Unterrichtspraktikum – wenn auch wegen seines Jobs als Uni-Assistent ein verkürztes. Vor 40 Jahren am Akademischen Gymnasium in Innsbruck waren die Erfahrungen allerdings nicht nur positiv: „Da hat man mich ins eiskalte Wasser geschmissen“, erzählt er.

Nun, diesmal hat Lateinlehrerin Sarah Niedertscheider (33), eine von Töchterles früheren Studentinnen an der Uni Innsbruck, ihn vorab gebrieft: Die Siebtklässler sind gerade bei einem Abriss über die Philosophenschulen der Antike, verfasst von Isidor von Sevilla. Zu dem Töchterle gleich die erste von vielen Geschichten einfällt. Nicht nur sei er einer der meistgelesenen Gelehrten des Mittelalters gewesen – er habe auch die Zeitrechnung ab Christus propagiert und sei insofern mitverantwortlich, dass heute für große Teile der Welt das Jahr 2016 sei.


Tugend als blasses Wort. Also auf zu den Stoikern. „Stoici a loco dicti sunt“, liest Paolo (16). „Die Stoiker sind nach einem Ort benannt.“ „Lests ihr c oder lests ihr k?“, unterbricht Töchterle. „Frau Niedertscheider liest k.“ – „Dann hat Innsbruck gewirkt. Will man sprechen wie die Römer, muss man k sagen.“ Die Stoiker meinen, dass man nur mit Tugend glücklich werden könne. „Ein zentraler Satz der stoischen Philosophie. Aber Tugend ist ein blasses Wort.“ Eigentlich komme das von taugen, von tüchtig. Mit der christlichen Askese sei es zu etwas Passivem geworden. „Aber es ist etwas sehr Aktives.“

Dass man kaum zum klassischen Übersetzen kommt bei den ganzen Geschichten, Fakten, Hintergrundinformationen, die Töchterle da aus dem Ärmel schüttelt, ist wohl nicht ganz alltäglicher Lateinunterricht. Aber es geht in diese Richtung. „Es gab lange dieses Odium des Auslesefachs und einen schrecklichen Lateinunterricht, der die Lektüre als Exerzierfeld für die Grammatik missbraucht hat“, sagt Töchterle. Schulleiter Meinhard Trummer stimmt zu. „Als ich hier begonnen habe, gab es noch gefürchtete Lehrer. Jetzt ist Latein ein Lieblingsfach.“


„Latein – nein danke!“ Paradoxerweise dürfte vor allem der bisweilen starke Gegenwind dem Lateinunterricht gutgetan haben. Seit Jahrzehnten ist Latein meist das erste Fach, das genannt wird, wenn es um eine Reform der Lehrpläne geht. „In den 1970er- und 1980er-Jahren war der Kampf gegen Latein ein gewaltiger“, erinnert sich Schulleiter Trummer an die Aktion „Latein – nein danke!“ der Sozialistischen Jugend. Anfang der 2000er-Jahre wurde erneut heftig über Latein debattiert. Nun: Auch und gerade vor diesem Hintergrund habe sich der Lateinunterricht zum Positiven verändert.

Die Statistik zeigt ein differenziertes Bild: Während die Zahl der Lateinschüler zwischen 2001 und 2011 um 10.000 auf 63.000 stieg – vor allem wegen des starken Zuwachses an Gymnasiasten – sank sie in den zwei Jahren danach wieder um 4000 auf 59.000 und liegt damit ungefähr gleichauf mit der Zahl der Italienischschüler. Am Akademischen Gymnasium gehört Latein bereits ab der zweiten Klasse selbstverständlich dazu. Immerhin ist humanistische Bildung ein Grundpfeiler des ältesten Gymnasiums Wiens.

Und die Schüler – die in Töchterles Stunde noch ein bisschen disziplinierter waren als sonst, Stichwort: Stecknadel – sagen jedenfalls nichts Negatives über das Fach. „Ich finde Latein wichtig, weil es auch zur Allgemeinbildung gehört“, meint Marlene (16). „Ich mag es gern, man muss sich halt viel auswendig merken“, sagt Julia (16). „Für mich sind die Themen total interessant, die im Lateinunterricht vorkommen: Moral, Philosophie oder Politik“, sagt Ildikó (16). „Ich finde es urcool. Seit ich Latein habe, weiß ich viel mehr, woher die Wörter ursprünglich kommen“, sagt Amina (18).


Der bürgerlicher Bildungskanon. „Latein gilt als Bildungsfach, gerade wenn man von einem bürgerlichen Bildungsbegriff spricht“, sagt Ex-Minister Karlheinz Töchterle. „Latein trägt viele Elemente des bürgerlichen Bildungskanons in sich. Deshalb war es vielleicht auch den Jungsozialisten so verhasst.“ Dabei sei Latein seiner Meinung gewissermaßen ein Aufstiegsfach, gerade für Bildungsferne: „Denn in jeder winzigen Einheit passiert Bildung: grammatikalisch, sprachlich, metasprachlich – und natürlich kulturell.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

4281 / Ruediger Safranski
Bildung

Safranski: "Den politischen Islam will ich nicht bei uns haben"

Bildung und Erziehung hält der deutsche Philosoph und Schriftsteller Rüdiger Safranski für eine gelungene Integration von Flüchtlingen "überhaupt für das Entscheidende".
Nur El-din El-Rez hat Physik im syrischen Homs studiert. Heute lernt er an der TU Graz.
Hochschule

"Ich bin gezwungen, ein neues Leben zu beginnen"

Mehr und mehr Flüchtlinge kommen an die heimischen Universitäten. Wie der syrische Physikstudent Nur El-din El-Rez aus Homs.
Jugendforscher Philipp Ikrath
Hochschule

"Der klassische Karrieretyp ist ein Auslaufmodell"

Eine große Unsicherheit kennzeichnet die Studenten heute, sagt Jugendforscher Philipp Ikrath. Sie wollen vor allem unabhängig sein.
In der bunten Time Capsule können die Forscher um Giulio Superti-Furga (M.) ihre Ideen verschenken.
Hochschule

Ein Schlaraffenland für Ideen

Kann man sich auf unerwartete Herausforderungenvorbereiten? Ja, indem man übt, Probleme wie eine Zwiebel zu sehen und immer eine Schale weiter zu denken. Und man muss stets die Perspektive wechseln.
In der Forschung sollen in erster Linie die Leistungen des Einzelnen zählen, sagt Physiker Daniel Grumiller.
Wissenschaft

Der Dachdecker und das Schwarze Loch

In Boston erlebte Physiker Daniel Grumiller eine Faszination für Forschung, die er in Österreich vermisst. In der Jungen Kurie der Akademie der Wissenschaften setzt er sich für bessere Karriereperspektiven für junge Forscher ein.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.