Gigantismus: Langsam wird die Luft zu dünn!

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Gigantismus, obszöne Gagen und zig andere Auswucherungen plagen den Spitzensport – es mutet wie die Suche nach der finalen Schmerzgrenze an.

Meine Aufgabe als ZDF-Experte für Skispringen kann mich unverhofft ins Epizentrum der Aufregung in die Mixed-Zone eines Stadions spülen. Eine Verständigung mit dem Moderator ist dort, im Dröhnen von Boxen und Vuvuzelas nur durch Anschreien gegen die pulsierenden Schallwogen und mittels Funk- und Kopfhörertechnik möglich. Im sinn- und nervtötenden Lärm sehne ich mich zurück in die Abgeschiedenheit des Trainerturms. Von dort oben, weit weg vom Wummern der Riesenboxen, wird man zum Beobachter.

Einiges am Spitzensport befremdet von außen betrachtet und manche Entwicklungen überschreiten nicht nur akustisch die Schmerzgrenze. „Schneller, höher, stärker“ und leider auch „lauter“ geben den Takt vor. Das gilt hinsichtlich sportlicher Leistung und immer mehr in Bezug auf die Präsentation möglichst spektakulärer und atemberaubender Ereignisse und die beabsichtigte Steigerung des Marktwerts von Sportarten, Veranstaltungen und Mitwirkenden.

Als gewaltiger Wachstumsbeschleuniger im Sport wirken der freie Personen- und vor allem Kapitalverkehr, befeuert durch Digitalisierung und weltweite Echtzeitvernetzung im Internet.


Gier nach „Sakralbauten“. Sportwettbüros drängen sich penetrant in alle Stadtbilder. Mit Wetten ist auch der kleine Mann mittendrin im Geschäft mit den großen Träumen. Volkswirtschaftler kündigen eine weltweite „Brasilianisierung“ an, weil die Gehaltsschere immer weiter auseinanderdriftet und der Mittelstand verschwinden wird. Sport als weltgrößte Ablenkung und Ausgleich zu wachsenden sozialen Spannungen ist – nicht nur in Brasilien – gefragt. Der Traum vom großen Glück und Millionensegen lebt im Sport und bei allen, die auf ihn wetten.

Die Superreichen leisten sich Fußballklubs als private Geldanlagen und Prestigespielzeuge. Spielergehälter und Transfersummen sind so obszön hoch, dass sie schon vertuscht werden müssen, um in Wahrheit nicht den Volkszorn zu erregen.

Der Sport baut, wie einst die religiösen Glaubensgemeinschaften, die komplexesten und auffälligsten „Sakralbauten“ der Moderne. Die Erweiterung des Camp Nou auf 105.000 Zuschauer wird 400 Millionen Euro kosten. Die Hoffnung auf Erlösung wird nicht mehr im Jenseits, sondern am Wochenende oder in der Frühjahrsrunde verortet. Rund um die Uhr und den Globus wird die künstliche Aufregung von Hunderten Sportsendern und Wettanbietern hochgekocht.

„Wie ein Markt“ erschienen schon Cicero die von einer riesigen Aufmerksamkeit begleiteten antiken Olympischen Spiele. Er war ein aufmerksamer Beobachter dieses hektischen Treibens. Die einen streben mit körperlicher Geschicklichkeit und Kraft nach Ruhm, Ehre und Siegeskränzen. Die anderen werden ausschließlich durch die Möglichkeit des Kaufens und Verkaufens und die Aussichten auf Gewinn und hohen Profit angezogen. „Die vornehmste“ Gruppe, die dritte, identifizierte Cicero als die seltenste, „die weder Beifall der Menge noch Profit sucht...“ Philosophen nennt man jene, die „fern von Ruhm- und Profitstreben nur kämen, um zu schauen, was da abläuft...“ (aus; Hans Lenk, „Dopium fürs Volk“).

Es gibt immer weniger Philosophen und noch weniger von ihnen interessieren sich für Sport. Athleten sind im Profi-Zeitalter gleichzeitig Geschäftsleute und gehören zu den erfolgreichsten Wirtschaftsplayern. Sie werden nicht nur für ihre Leistungen, sondern, wie etwa David Beckham, für Beliebtheitsgrad und Prominenz bezahlt. „Berühmt ist nur, wer so bekannt ist, dass die Bekanntheit für sich genommen schon hinreicht, um für fortdauernde Beachtung zu sorgen.“ (Georg Frank, „Ökonomie der Aufmerksamkeit“).

In München, St. Moritz, Hamburg und Oslo haben sich die Bewohner gegen eine Olympia-Bewerbung und gegen den ungehemmten Gigantismus gestellt. Missmut und Widerstand gegenüber Mega-Events sind in der freien westlichen Welt unverkennbar gewachsen. IOC-Präsident Thomas Bach überraschte nach den maßlosen Putin-Spielen von Sotschi mit seiner „IOC-Agenda 2020“. 40 Thesen zeigen ein selbst verordnetes Gesundschrumpfen. Sollen verblasste Erinnerungen an Gespenster einer tristen olympischen Epoche gebannt werden?

Am 7. November 1972 wurden die fünf olympischen Ringe als rostiger und geradezu unverkäuflicher Ladenhüter in Lausanne vor die Tür des honorigen IOC gelegt. Im letzten Moment sprang Innsbruck für Denver als Ersatzort für die Winterspiele 1976 ein. Im Sommer darauf gastierte Olympia in Kanada. 30 Jahre lang musste Montreal die anlässlich der Spiele 1976 entstandenen Milliardenschulden abstottern.

1989 machte der Kollaps der kommunistisch-sozialistischen Gesellschaftsordnung endgültig den Weg frei für den imponierenden Höhenflug des Profisports. Der Sport wurde mit Haut und Haaren vom entfesselten Kapitalismus geschluckt. Im Kalten Krieg und zwischen ideologischen Gegensätzen festgefrorene Marktchancen tauten nach Glasnost und Perestroika auf wie in der Mikrowelle.


Als die Amateure gingen. Als Retter und/oder Verräter Olympias warf der spanische Feldherr Juan Antonio Samaranch die Amateurparagrafen und sämtliche Berührungsängste mit den Profisportarten wie alte schwere Sandsäcke aus der modrigen Führerkanzel. Ein hell erleuchteter Heißluftballon mit olympischen Ringen stieg im Eiltempo und von der ganzen Welt bewundert in den Medien- und Wirtschaftshimmel.

Ganz weit oben, in den Höhenschichten des abgehobenen Gigantismus, wird die Luft langsam dünn. Auch für das Internationale Olympische Komitee IOC und den Weltfußballverband Fifa, die buntesten und größten, nach vielen Skandalen angeschlagenen und notdürftig geflickten Ballone am Sporthimmel.

Daher will Thomas Bach „den Sport in der Gesellschaft besser verankern“. Olympische Spiele sollen mit der Charta 2020 in Zukunft kostengünstiger abzuwickeln, flexibler und umweltverträglicher zu gestalten und moralisch bis politisch überzeugender zu vertreten sein. Das klingt allerdings auch nach einem kontrollierten Sinkflug, mit dem ein geschickter Ballonfahrer die Chance wahren will, um passende – gesellschaftliche – Strömungen zu erwischen, deren Unterstützung er zum Obenbleiben und Vorwärtskommen ausnützen muss.

GASTAUTOR TONI INNAUER

Schanzenlegende
Am 1. April 1958 in Bezau geboren, hob der Schüler von Baldur Preiml 1976 zum perfekten Flug ab mit der Note 5 x 20. Er gewann Olympia-Gold 1980, avancierte zum Mastermind der ÖSV-Skispringer und war bis 2010 im ÖSV als Direktor wegweisend.

Der Sportphilosoph
und Familienmensch – verheiratet, drei Kinder – studierte Lehramt Philosophie & Psychologie und Sport. Seine Autobiografie „Der kritische Punkt. Mein Weg zum Erfolg“ zeigt Karriere, Weggefährten, die Liebe zum Bregenzerwald. Er ist begeisterter Fliegenfischer.

Geschäftsmann
Innauer ist Berater, TV-Experte und hält Vorlesungen über Projekt- und Qualitätsmanagement.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)

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