"Eine friedliche Senkung der Ungleichheit gibt es nicht"

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Nur Krieg, Revolution, Staatskollaps und Seuchen senkten in der Menschheitsgeschichte die Ungleichheit dauerhaft, sagt der Stanford-Historiker Walter Scheidel. Sozialstaatliche Umverteilung gerät an ihre Grenzen.

Vor Kurzem hat Oxfam die Debatte um die Ungleichheit auf eine Kennzahl gebracht: 62 Menschen besitzen weltweit so viel wie die Hälfte der restlichen Menschheit. Was haben Sie sich gedacht, als Sie davon gehört haben?

Walter Scheidel: Es ändert sich bei diesen Studien von Jahr zu Jahr nicht allzu viel. Im Vorjahr hat Oxfam das so veranschaulicht: die Leute, die so viel Vermögen haben wie die ärmste Hälfte der Weltbevölkerung, passen in einen Bus. 2010 hätte man für sie noch ein ganzes Flugzeug gebraucht. Nun, diese Studie vergleicht immer arme mit reichen Ländern. Und da ist es kein Geheimnis, dass es Milliarden armer Menschen auf der Welt gibt.

Die Oxfam-Studie misst zudem nur Nettovermögen. Der Journalist Ezra Klein hat gemeint, seine beiden kleinen Neffen seien insofern reicher als 30 Prozent der Weltbevölkerung, weil sie ein Sparschwein, aber keine Schulden haben.

Ja. Beim Nettovermögen, also abzüglich von Hypotheken und ähnlichen Verbindlichkeiten, bleibt selbst bei vielen Menschen in der Mittelschicht nicht mehr viel übrig. Insofern ist es auch nicht sehr sinnvoll, sich nur das Vermögen anzusehen. Das Einkommen ist eine aussagekräftigere Variable. Da zeigt sich beim Vergleich von den USA und vielen europäischen Ländern, dass die Unterschiede vor Steuern und Sozialleistungen gar nicht so groß sind. Frankreich und die skandinavischen Länder, von denen man meint, dass sie besonders egalitär seien, sind nur deshalb netto weniger ungleich, weil die Umverteilung größer ist. Aber die zugrunde liegende Verteilung ist sehr ähnlich. Das ist interessant, weil es darauf hindeutet, dass die freie Marktwirtschaft diese Ungleichheit sozusagen automatisch produziert.

Sie haben die Ungleichheit historisch über mehrere Jahrtausende und in mehreren Kulturen erforscht und sind zum Ergebnis gekommen, dass sie nur unter sehr gewaltsamen Umständen stark sinkt. Können Sie das genauer schildern?

Ich gehe von Thomas Pikettys Arbeit aus, der darauf hingewiesen hat, dass die Ungleichheit vor einigen Jahrzehnten wesentlich weniger ausgeprägt war, dank der Schocks, die wir in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts erlebt haben, die Weltkriege und Revolutionen. Über Tausende Jahre hinweg gab es nur vier Faktoren, die imstande waren, Ungleichheit signifikant zu reduzieren. Das sind erstens die Massenmobilisierungskriege, primär ein modernes Phänomen. Zweitens die Revolutionen, ebenfalls eine Erscheinung des 20. Jahrhunderts, also die Russische und die chinesische Revolution. Drittens der Zusammenbruch von Zivilisationen, vor allem in der vormodernen Zeit, das Römische Reich zum Beispiel, die Maya, das alte Ägypten.

Da brechen bestehende Hierarchien zusammen.

So ist es. Alle Leute werden ärmer, aber die Reichen haben viel mehr zu verlieren, und so komprimiert sich die Verteilung. Und der vierte Faktor sind Seuchen wie die Pest im späten Mittelalter, wo in agrarischen Gesellschaften viele Menschen umkommen, aber die physische Infrastruktur erhalten bleibt. Die Überlebenden haben also mehr Ressourcen zur Verfügung, und es gibt mehr Bedarf an Arbeit, wodurch die Arbeiter im Vergleich zu den Landbesitzern, den Kapitalisten, mehr verdienen.

Alles keine schönen Aussichten.

Ja. Also habe ich mir systematisch angesehen, ob es friedliche Alternativen gibt, die Ungleichheit zu senken.

Und?

Und die gibt es eigentlich nicht. Demokratie als solche reduziert zum Beispiel Ungleichheit weltweit nicht systematisch: In manchen Fällen tut sie es, in anderen nicht. Es kommt darauf an, wie das demokratische System beschaffen ist. Wirtschaftskrisen reduzieren die Ungleichheit ebenfalls nicht dauerhaft. Man muss sich nur ansehen, was 2008/2009 passiert ist: Da haben die Reichen kurzfristig große Verluste eingefahren, und innerhalb von ein paar Jahren haben sie sich erholt und sind nun noch reicher als zuvor.

Kann die Bildung die Ungleichheit stoppen?

Das Zusammenspiel von Erziehung und dem Bedarf an bestimmten Arbeitskräften, die Vorstellung, dass man mit besserer Bildung Ungleichheit ausgleichen kann, gefällt Ökonomen sehr gut. Das ist eine ökonomische Erklärung mit Angebot und Nachfrage. Aber es gibt kein wirkliches Beispiel, bei dem Veränderungen in der Bildung die Ungleichheit dauerhaft stark verringert hätten.

Das führt zu einer paradoxen Einsicht: Wenn Frieden herrscht und keine Seuchen wüten, steigt die Ungleichheit, und sie sinkt nur, wenn die Welt untergeht.

Man muss sich natürlich darüber klar sein, dass das, was geschichtlich geschehen ist, nicht die Zukunft voraussagt. Es ist im Prinzip möglich, dass wir imstande sind, andere Mechanismen zur Senkung der Ungleichheit zu entwickeln, weil wir andere Institutionen haben, höheres Durchschnittseinkommen, höhere Bildung, Demokratie. Die Geschichte zeigt uns aber, dass diese Mechanismen noch nicht existieren. Und die vier alten Mechanismen sind weder wünschenswert noch wahrscheinlich. Es wird in absehbarer Zukunft sicher keine weiteren Massenkriege geben, weil sich die Technologie geändert hat. Es gibt derzeit überhaupt keine ideologische Infrastruktur für eine Revolution; das hat sich völlig aufgehört. Staaten sind viel stabiler, außer in marginalen Regionen. Und Massenseuchen kann es theoretisch geben, aber wegen der Fortschritte in der Medizin ist das nicht wahrscheinlich.

Wie kann man dieses Dilemma den Anhängern von Syriza, Podemos und Bernie Sanders erklären? Für die ist die Ungleichheit ja das größte menschliche Übel.

Das Argument von Politikern wie Sanders, Corbyn oder Varoufakis ist: Wenn die Massen sich dessen bewusst werden, können sie es ändern. Das stimmt auch, wenn sich politische Mehrheiten bilden, die sagen: Das ist das zentrale Problem, und es müssen alle möglichen Maßnahmen ergriffen werden, um die Ungleichheit zu reduzieren. Bloß ist das eine völlig dekontextualisierte Wahrnehmung. Diese starken politischen Veränderungen gab es historisch immer nur in wirklich schweren Krisenzeiten, in denen auch die reichen, mächtigen Leute keine andere Wahl hatten. Aber mit normalen politischen Mitteln ist das heute nicht möglich. Wir leben seit dem Ende des Kalten Krieges ja in einer vergleichsweise friedlichen Welt. In der politischen Debatte kommt das nie zur Sprache. Es wird stets so getan, als würde, wenn wir die Steuersätze erhöhen und die Gewerkschaften stärken, alles wieder so werden, wie es einmal war. Das ist aus historischer Perspektive falsch.

Wie haben sich die großen technologischen Fortschritte auf die Ungleichheit ausgewirkt? Es gibt ja das Argument, dass die vierte industrielle Revolution, in der wir gerade leben, mit Nanotechnologie, Robotik, Digitalisierung und so weiter, diese Effekte verstärkt.

Ich hätte das zu Beginn meiner Studie nicht erwartet, aber es gibt ein Paradox. Man würde glauben, dass zu Beginn des 19. Jahrhunderts, als die Industrialisierung begonnen hat, die Ungleichheit stark gestiegen sei. Dem dürfte aber nicht so sein – denn die war schon seit Jahrtausenden so hoch. Denn in dem Moment, in dem man vom Jagen und Sammeln auf Landwirtschaft umstieg, wo man Privatbesitz hatte, den man durch Vererbung weitergeben konnte, und hierarchische, ungleiche politische Strukturen, hatte man schon sehr starke Ungleichheit. Mit der Industrialisierung änderten sich nur die Mechanismen, die dem zugrunde liegen: In vormodernen Zeiten ist der am reichsten, der das meiste Land hat, und das vererbt und konzentriert sich. Die politischen Systeme waren damals enorm ungleich, und das führte dazu, dass oft nicht der am reichsten war, der am besten wirtschaftet, sondern der politische Macht hat und ausbeuten, plündern und erpressen konnte. In Europa hat sich das gewandelt, die Staaten wurden demokratischer, haben die Kapitalisten mit der Zeit besser beschützt. Und so war es für die Kapitalisten möglich, ihren Besitz zu bewahren und zu erweitern. Darum sieht man keinen wesentlichen Unterschied in der Ungleichheit zwischen zum Beispiel England im 19. Jahrhundert und England im Mittelalter. Das ist irgendwie deprimierend, und es gibt keinen Grund anzunehmen, dass sich das in Zukunft ändern würde. Die Wirtschaft wird sich ändern, das Resultat bleibt aber das gleiche.

Im Lichte Ihrer Forschungen: Wie bewerten Sie den klassischen europäischen Wohlfahrtsstaat? In Österreich haben wir knapp über 50 Prozent Staatsquote. Es gäbe also ausreichende Mittel zur Umverteilung.

In Europa war der Sozialstaat in den vergangenen Jahrzehnten recht erfolgreich in der Abwehr der steigenden Brutto-Ungleichheit bei den Einkommen. Aber dafür gibt es eine logische Grenze. Wenn die Staatsquote, wie in ganz Westeuropa, rund 50 Prozent beträgt, scheint der Staat an seine Grenzen zu stoßen. Selbst in Europa ist die Netto-Ungleichheit in den vergangenen 20, 30 Jahren gestiegen. Es öffnet sich eine Spanne, die der Staat nicht mehr durch zusätzliche Umverteilung absorbieren kann. Europas größtes Problem in den nächsten 50 Jahren ist die Alterung. Die ist massiv, und sie wird Einfluss auf die Verwendung öffentlicher Mittel haben. Man wird mehr für Pensionen, das Gesundheitswesen und die Pflege ausgeben müssen. Diese Ausgaben sind nicht wirklich redistributiv. Reale Umverteilung bewirken Subventionen für arme Leute mit vielen Kindern. Je mehr öffentliche Mittel verwendet werden, um diesen Alterungsprozess zu finanzieren, desto weniger Mittel werden zur realen Umverteilung verfügbar sein. Die Einwanderung kann diesen Prozess nur reduzieren, aber nicht abfangen. Das ist ganz unmöglich. Und es gibt schon Studien, die zeigen, wie sich die Anwesenheit einer großen Zahl von als fremd empfundenen Einwanderern auf die Einstellung der Menschen gegenüber der Umverteilung auswirkt. Und es zeigt sich, wenig überraschend, dass der Effekt negativ ist. Die Leute sagen sich: Warum sollen wir zu diesen Leuten umverteilen? Das sieht man bereits in Schweden und Dänemark.

Der europäische Sozialstaat wird also weniger kohäsiv, altert und hat ohnehin wenig Spielraum, die Steuern zu erhöhen.

Das hätte auch keinen Sinn. François Hollande musste zum Beispiel die 75-prozentige Steuer auf Millionäre zurücknehmen, weil sie fast nichts eingebracht und ihn noch unbeliebter gemacht hat.

Geht die Debatte vielleicht am eigentlichen Problem vorbei? Mir konnte noch niemand erklären, ab welchem Gini-Koeffizienten man in einer guten und ab welchem man in einer schlechten Gesellschaft lebt. Wer heute bei Starbucks Kaffee zubereitet, ist viel ärmer als der Starbucks-Chef, aber er hat es besser als die Näherin in New York vor 100 Jahren, die ständig Angst haben musste, dass die Fabrik in Flammen aufgeht.

Das ist eine sehr gute Frage. Es geht ja primär um die Armut. Man könnte sich darauf konzentrieren, die Anzahl der Menschen zu reduzieren, die unter einem bestimmten Niveau leben. Aber sobald auch die ärmeren Bevölkerungsschichten einen gewissen Lebensstil erreicht haben, muss man sich fragen, ob die Verteilung von so zentraler Bedeutung ist. Im Grunde genommen könnte man sagen, sie ist nur dann ein Problem, wenn die Reichen sich Mittel aneignen, die eigentlich anderen Schichten zugutekommen sollten. In diversen Entwicklungsländern kann man dieses Argument sicher bringen. In westlichen Ländern ist das schwieriger. Die Frage ist dort: Würde das Geld, das sich irgendwelche Wall-Street-Leute einstecken, dem Starbucks-Barista zugutekommen oder nicht? Es gibt auch keinen Idealwert. Niemand hat nachgewiesen, dass ein bestimmter Gini-Koeffizient ideal ist in Bezug auf Wirtschaftswachstum und sozialen Frieden. Zwischen Schweden und den USA ist der Unterschied enorm – und trotzdem existieren beide Länder recht erfolgreich vor sich hin.

Sie geben zu bedenken, dass wir uns auf eine längere Phase der Ungleichheit gefasst machen müssen. Glauben Sie, dass das zu jenen Spannungen führen kann, die letztlich doch zu jenen drei menschengemachten Mechanismen führen können, also Massenkriegen, Revolutionen oder Staatskollaps?

Die einzigen empirischen Untersuchungen dazu betreffen Bürgerkriege in Entwicklungsländern, von denen es in den letzten 50 Jahren viele gab. Da spielt die Ungleichheit nur eine Rolle, wenn es eine Gruppenungleichheit ist: Eine Volksgruppe fühlt sich also gegenüber einer anderen benachteiligt, und es kommt zum Bürgerkrieg. In der Form ist das in westlichen Ländern aber nicht gegeben. Ungleichheit, wie wir sie erfahren, hat nicht diesen Effekt – auch nicht in ärmeren Ländern. Es gibt auch keine Bürgerkriege in reichen Ländern. Es weist also empirisch nichts darauf hin, dass die Spannungen in einem Maß zunehmen, dass sie in gewaltsame Veränderungen münden. Und schließlich macht die Alterung die Bevölkerung friedlicher. Es gibt immer mehr 85-Jährige, aber weniger junge Männer, die in allen Gesellschaften gewaltbereiter sind.

Zur Person

Walter Scheidel wurde 1966 in Wien geboren, hat dort Geschichte und Numismatik studiert und sich in Graz habilitiert. Nach Forschungsaufenthalten an der University of Michigan, am Darwin College in Cambridge sowie Gastprofessuren an der École des Hautes Études en Sciences Sociales in Paris und in Innsbruck zog er 1999 in die USA, wo er seit 2004 Professor für Geschichte an der Stanford University ist.

„The Great Leveler“(„Der große Gleichmacher“) lautet der Titel seines im kommenden Jahr bei Princeton University Press erscheinenden Buches über das Zusammenspiel von Gewalt und Ungleichheit in der Menschheitsgeschichte, von der Steinzeit bis ins Heute. Stanford University

Fakten

Thomas Piketty hat 2013 in „Das Kapital im 21. Jahrhundert“ die These erhoben: Die seit Mitte des 20. Jahrhunderts steigende Vermögenskonzentration gefährde Demokratie und Wohlstand.

Walter Scheidel geht von Pikettys Annahme aus, blickt aber über das 18. Jahrhundert viel weiter in die Geschichte zurück. Sein Befund: Nur in Krisenzeiten sank die Ungleichheit stark.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 20.03.2016)

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