Natascha Kampusch: Der Fall, der niemals Ruhe findet

Die Entführung von Natascha Kampusch (Bild: Februar 2013, Premiere des Films „3096 Tage“) sorgt weiter für Gesprächsstoff.
Die Entführung von Natascha Kampusch (Bild: Februar 2013, Premiere des Films „3096 Tage“) sorgt weiter für Gesprächsstoff.(c) REUTERS (HERWIG PRAMMER)
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Heuer jährt sich die Flucht von Natascha Kampusch zum zehnten Mal. Ein neues Buch über Videos aus dem Keller darf als Vorbote neuer Debatten und Publikationen gelten.

Wien. Die Verschwörungstheorien könnten endlich ein Ende haben, heißt es aktuell – denn: Videos bzw. Protokolle von Videodialogen zwischen Natascha Kampusch und ihrem Entführer, Wolfgang Priklopil, würden die offizielle Ein-Täter-These bestätigen. Diese Protokolle werden in einem nun erschienenen Buch veröffentlicht („Die Presse“ berichtete). Allerdings: Die von Priklopil aufgenommenen Videos waren den Behörden seit Beginn der Untersuchungen bekannt. Die daraus gewonnenen Erkenntnisse konnten die Ermittler aber nicht davor bewahren, zur Zielscheibe öffentlicher Kritik zu werden. Kein Wunder. Alle Verschwörungstheorien hatten ja ihrem Wesen nach eines gemeinsam: eben das gezielte Konterkarieren der behördlichen und damit offiziellen Linie.

Kaum erschienen sorgt das Buch (und dies mag sich PR-technisch vielleicht nicht ganz ungünstig auswirken) für Diskussionen. Thema sind vorerst gar nicht so sehr die Inhalte selbst, die in „Der Entführungsfall Natascha Kampusch. Die ganze beschämende Wahrheit“ vorkommen; Inhalte nämlich, die zeigen, dass ein pedantisch-gebieterischer Entführer, Wolfgang Priklopil, seinem Opfer unter anderem diverse Hausarbeiten abverlangte. Oder dass eben dieser Priklopil Anlässe wie Weihnachten oder Geburtstage in dem sogenannten Verlies bzw. in dem Wohnhaus in Strasshof an der Nordbahn (NÖ) in beklemmender Manier mit seinem Opfer „feierte“.

Es sind zunächst vielmehr die Umstände des Zustandekommens des von dem deutschen Dokumentarfilmer Peter Reichard geschriebenen Buches, die nun für Verstimmung sorgen. Laut dem Rechtsvertreter von Natascha Kampusch, dem Wiener Anwalt Gerald Ganzger, seien die nun publizierten Videodialoge keineswegs von Kampusch an den Autor übergeben worden. Ganzger: „Er hat das Material offenbar von dritter Seite.“

Und (unabhängig von der Quelle – infrage kommen hier vor allem Ermittlerkreise): „Der Autor verbreitet in dem Buch Inhalte von Videos ohne Wissen und ohne Zustimmung von Natascha Kampusch.“ Nachsatz: „Frau Kampusch findet das nicht in Ordnung.“ Jedoch hat Reichard vor fünf Jahren die TV-Doku „Natascha Kampusch: 3096 Tage Gefangenschaft“ unter Mithilfe des einstigen Opfers gedreht. Er durfte auch das „Verlies“ betreten. Im Vorwort des Buches heißt es über das Videomaterial, dass „die Tatsache seiner Existenz“ mit Zustimmung von Kampusch „nun öffentlich“ geworden sei.

Jedenfalls sind die Bänder, wie erwähnt, der Polizei, der Staatsanwaltschaft und dem damaligen U-Richter bekannt. Das Material wurde im Entführerhaus sichergestellt. Gleich nachdem Kampusch geflohen war und sich Priklopil vor einen Zug geworfen hatte.

Kampusch: „Nur ein Täter“

Der U-Richter hatte die Bänder nach genauer Sichtung an Kampusch übergeben. Es fanden sich keinerlei Hinweise auf das Mitwirken einer dritten Person oder gar die Existenz eines Kinderpornorings – derlei Spekulationen waren ja bekanntlich im Umlauf.

Zweifler mögen nun einwenden, dass Videosequenzen eine achteinhalbjährige Gefangenschaft nicht einmal ansatzweise abbilden können. Und auch dass das Opfer selbst immer nur von einem (einzigen) Täter erzählt hat, dürfte ein Jahrzehnt nach der gelungenen Flucht der heute 28-Jährigen nicht ausreichen, um Spekulationssümpfe trockenzulegen.

Wieder eine Anzeige

So ist es auch nicht verwunderlich, dass dieser Tage eine neue Anzeige eingelangt ist. Darin macht Karl Kröll, der Bruder des einstigen Kampusch-Chefermittlers Franz Kröll (er beging Suizid), den Tod von Priklopil erneut zum Thema. Aufgrund des Verletzungsbildes der Leiche könne die Version, Priklopil habe sich vor den Zug geworfen, nicht stimmen. Es möge also in Richtung Mord ermittelt werden. Damit wäre man erneut mittendrin in der Mehr-Täter-These – zumal ein hypothetischer Mörder wohl auch in den Fall Kampusch involviert sein müsste.

Allerdings: Da das Ermittlungsverfahren längst beendet ist, kann es formal gesehen nicht einfach fortgesetzt werden. Die Anzeige (sie wurde bei der Oberstaatsanwaltschaft Wien eingebracht, operativ tätig werden müsste im Normalfall aber die Staatsanwaltschaft Wien) müsste also wirklich neue Erkenntnisse beinhalten. Dann könnte es eine Wiederaufnahme des Verfahrens geben. Praktisch alle Beobachter erachten dies aber als äußerst unwahrscheinlich
Der ad acta gelegte Jahrhundertfall wurde immerhin von Ermittlern, einer zweimal eingesetzten Kommission zur Evaluierung der behördlichen Tätigkeiten, einem parlamentarischen Unterausschuss und einem internationalen Expertenteam untersucht. Das Verstummen von Gerüchten wurde dadurch aber nicht erreicht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.03.2016)

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