Der Problembezirk im Westen von Brüssel wurde wie Molenbeek von den Behörden lang vernachlässigt. In einer Viertelstunde fährt die Metro von den Armenvierteln zum Zentrum der EU-Institutionen.
Brüssel/Wien. Auf dem Vorplatz der Metrostation St. Guidon kennt der Tag keine fixen Uhrzeiten. Tauben flattern nervös durch die Luft – im ständigen Kampf um zu Boden gefallene Chips der Jugendlichen, die sich hier die Zeit vertreiben. Der Blick der meist jungen Männer ist ausdruckslos. Die vielen Stunden, die sie Tag für Tag totschlagen müssen, die Perspektivlosigkeit ihres gesamten Lebens nagt am Selbstwertgefühl.
Anderlecht, eine Gemeinde im Westen der Region Brüssel-Hauptstadt, hat neben dem im Norden angrenzenden Molenbeek spätestens seit den verheerenden Terroranschlägen von Paris im vergangenen November traurige Berühmtheit erlangt.
In diesen Ghettos am Rand der Stadt konnten sich – von den Behörden weitgehend unbemerkt – islamistische Terrorzellen formieren, die nun wohl auch für die Attentate auf dem Brüsseler Flughafen und im Europaviertel verantwortlich zeichnen. Die Polizei, berichten Anwohner, habe trotz steigender Kriminalität in der EU-Hauptstadt bestimmte Gegenden des Viertels gemieden. Dabei liegt das Problem auf der Hand. In den Straßen von Anderlecht lässt die vorwiegend arabischstämmige Bevölkerung den Tag vorüberziehen; in Cafés oder dem großen Parc Astrid, wo auch das Stadion des international bekannten Fußballklubs RSC Anderlecht beheimatet ist: Nur scheinbar spielt sich all dies in großer Entfernung von den gut verdienenden Beamten der EU-Institutionen ab. Laut Statistikinstitut ist etwa ein Viertel der Anderlechter arbeitslos, bei den Jugendlichen liegt die Zahl höher. Auf dem Arbeitsamt herrscht stets großer Andrang.
Integration klappt kaum
Einige wenige haben es dennoch geschafft, sie haben Dürüm-Lokale, Nightshops oder Autoreparaturwerkstätten eröffnet, die hier das Stadtbild prägen. Typisch belgische Geschäfte wie die Fleischerei am Hauptplatz gibt es nur noch wenige. Ihre Besitzer sind längst weggezogen: In Anderlecht mit seinen über 100.000 Einwohnern zeigt sich drastisch, wie schlecht die Integration von Einwanderern aus Marokko oder der Türkei in Brüssel funktioniert – selbst in zweiter und dritter Generation.
Doch die drittgrößte Gemeinde Brüssels ist nur ein Teil dieser Stadt, die unendlich viele Gesichter hat. Wenige Kilometer entfernt liegt das Europaviertel, ein Ort, wo die betriebsame Hektik des Arbeitsalltags an jeder Straßenecke spürbar ist. Von St. Guidon rauscht die U-Bahn vorbei an den Armenvierteln, bis sie nach 15, vielleicht 17 Minuten das Zentrum der EU erreicht – die Station Maelbeek, wo am Dienstag bei einem Terroranschlag mindestens 20 Menschen ums Leben gekommen sind und nur langsam wieder Normalität einkehren kann. Auf der anderen Seite des Tunnels aber, im Westen der Stadt, kennzeichnen weiter Armut und Hoffnungslosigkeit den Tagesablauf vieler Bewohner – eine gefährliche Mischung, die vielen Unschuldigen zum Verhängnis wurde.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2016)