Das Haager Urteil ist wichtig. Für endgültige Versöhnung brauchte es aber eine gemeinsame Aufarbeitung dessen, was in den 1990er-Jahren passiert ist.
Es herrschte Entsetzen in Europa. Niemand hatte gedacht, dass so etwas im Herzen des Kontinents nur etwa eine Flugstunde von Wien entfernt passieren konnte. Nicht ganz fünfzig Jahre nach Ende des Zweiten Weltkrieges fielen mitten in Europa wieder Wohnhäuser durch Artilleriebeschuss in Trümmer. Dörfer wurden von Bewaffneten in Brand gesetzt, Hunderttausende Menschen vertrieben, Tausende in Lager gesperrt und ermordet.
Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien, die 1991 begannen und sich bis 1999 hinzogen, schockierten nicht nur Europa. 1993 wurde im niederländischen Den Haag auf Beschluss des UN-Sicherheitsrates das internationale Tribunal zur Ahndung der Verbrechen im ehemaligen Jugoslawien eingerichtet. Ziel war es, die Politiker und Militärs zu bestrafen, die für die Untaten verantwortlich sind. Es sollten die individuell Schuldigen zur Rechenschaft gezogen werden – auch deshalb, um allen anderen Versöhnung und Neubeginn zu erleichtern. Zwar gibt es so etwas wie eine moralische Gesamtverantwortung. Doch wenn es um konkrete Schuld geht, sollten die nationalistischen Kriegsverbrecher nicht die gesamte Bevölkerung dabei in Geiselhaft nehmen können. Niemand sollte sich hinter einem serbischen oder kroatischen Kollektiv verstecken können und behaupten, nicht er, sondern „das Volk“ habe ganz konkrete Verbrechen begangen.
Mit dem Schuldspruch für Radovan Karadžić am Donnerstag erging das Urteil an einen der Hauptverantwortlichen für das Blutbad in Bosnien und Herzegowina. 40 Jahre Haft wegen Genozids und Kriegsverbrechen erhielt der einstige Chef der bosnischen Serben. Es ist ein Akt der späten Gerechtigkeit für all die Menschen, die Opfer der nationalistischen Machtpolitik von Karadžić geworden sind – einer Politik, bei deren Umsetzung die Führung des bosnischen Serben über Leichen ging.
Bei der Verhandlung gegen Karadžić wurde auch erneut ein Schlaglicht auf den Massenmord an den muslimischen Männern und Burschen in Srebrenica im Juli 1995 geworfen – ein Massaker, das ihm nun eine Verurteilung wegen Völkermordes einbrachte. Der rücksichtslose Krieg gegen die Bosniaken, die bosnischen Muslime, geriet für Karadžić und vor allem für Ratko Mladić, den Militärchef der bosnischen Serben, zur regelrechten Obsession. Die „Türken“, wie Karadžić und Mladić sie abfällig nannten, sollten umgebracht oder aus weiten Teilen des Landes vertrieben werden. Es war eine brutale, nationalistische Logik, in der es um „ethnisch reine“ Territorien ging, die nur das „eigene Volk“ besitzen sollte. Für die Idee einer multiethnischen, multikonfessionellen, friedlichen Gesellschaft war dabei kein Platz. Und diese Logik fand sich nicht nur auf der serbischen, sondern auch auf den anderen Seiten der exjugoslawischen Fronten.
Das Massaker in Srebrenica ist zudem ein Symbol für das Versagen der internationalen Gemeinschaft. Mladić' Truppen rückten in UN-Schutzzone ein, ohne dass die dort stationierten Blauhelme etwas dagegen unternahmen. Die niederländischen UN-Soldaten waren nicht ausreichend bewaffnet, um Widerstand zu leisten. Luftangriffe zu ihrer Unterstützung blieben aus.
In der Republika Srpska in Bosnien und Herzegowina und auch in Serbien wird das Urteil gegen Karadžić wohl sehr gemischte Reaktionen hervorrufen. Denn dort hat sich vor allem seit den Freisprüchen für den kroatischen General Ante Gotovina und mehrere kosovo-albanische Angeklagte in Den Haag die Stimmung verfestigt, das Tribunal sei „antiserbisch“ und gleichsam auf einem Auge blind. Und diese Stimmung versperrt den Blick darauf, welch furchtbare Verbrechen von Karadžić und seinen Anhängern begangen worden sind.
Die Verurteilung des einstigen Führers der bosnischen Serben ist ein Schritt zu mehr Gerechtigkeit. Zu einer endgültigen Versöhnung in Südosteuropa ist es aber noch ein steiniger Weg. Dafür bedürfte es einer gemeinsamen Aufarbeitung dessen, was in den 1990er-Jahren geschehen ist. Darüber sind sich die politischen Führungen in der Region alles andere als einig. Dafür aber in einer anderen, wichtigen Frage: Krieg und Mord sollen kein Mittel mehr sein, um politische Konflikte auszutragen.
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.03.2016)