Karadzic-Prozess: Urteil reißt alte Kriegsgräben auf

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Serbiens Regierung äußert sich kritisch zum Schuldspruch für Bosniens einstigen Serbenführer. Angehörige der Opfer klagen hingegen, 40 Jahre Haft seien viel zu wenig.

Belgrad/Sarajewo. An der späten Verurteilung des einstigen bosnischen Serbenführers Radovan Karadžić zu 40 Jahren Gefängnis wegen Völkermords scheiden sich die Geister. Der Hohe Repräsentant für Bosnien und Herzegowina, Valentin Inzko, forderte, nun müsse die Versöhnung Priorität haben. Doch vorläufig ist das Gegenteil der Fall – das Urteil reißt die alten Kriegsgräben wieder auf.

Auf den Schuldspruch reagieren Politiker und Medien der zerstrittenen Volksgruppen mit dem gewohnten Lagerdenken. Die Urteile des UN-Tribunals würden von den Politikern entweder ignoriert oder zur Darstellung der eigenen Volksgruppe als Opfer missbraucht, klagt der Analyst Srdjan Puhalo in Banja Luka: „Was ihnen völlig fehlt, ist der Respekt vor den Opfern – egal, welcher Nation.“

„Satanisierung der Serben“

Vor allem bosnisch-serbische Politiker wittern in dem Karadžić-Urteil den Versuch, die Schuld für den Bosnien-Krieg einseitig den Serben anzulasten. Das Tribunal habe sich die „Satanisierung der Serben als alleinige Kriegsschuldige“ zum Ziel gesetzt, wetterte Mladen Bosić, der Chef der einst von Karadžić gegründeten SDS.

„Den Haag vergewaltigt Serbien!“, titelte im benachbarten Serbien erbost die Boulevardpostille „Informer“. Serbiens Premier, Aleksandar Vučić, warnt derweil davor, das Karadžić-Urteil für „politische Angriffe“ auf die Republika Srpska in Bosnien zu missbrauchen: Belgrad werde nicht zulassen, dass Serben unterdrückt werden, nur weil sie Serben seien.

In diese Richtung stieß auch der serbische Justizminister, Nikola Selaković, der nach einer Sondersitzung der Regierung am Freitag vor die Mikrofone trat. Er bekannte sich zwar zu einer Versöhnungspolitik, gleichzeitig sprach er aber von einem bitteren Beigeschmack: „Die Verantwortlichen von Verbrechen an Serben sind fast nicht bestraft worden.“ Und: Von Verbrechen, die von Einzelpersonen begangen wurden, dürfe keine kollektive Verantwortung einzelner Völker abgeleitet werden. „Wir werden niemandem erlauben, das Urteil in erster Instanz gegen den ehemaligen Präsidenten der Republika Srpska als Anlass zu nehmen, um mit dem Finger auf uns und unsere Landsleute zu zeigen“, sagte Selaković.

Deutliche Kritik an dem Urteil kam auch aus Russland, einem engen Verbündeten Serbiens: „Wir sagen seit Langem, dass die Arbeit des Internationalen Kriegsverbrechertribunals politisch motiviert ist. Alle Fälle, die dort verhandelt wurden, waren einseitig“, sagte Vizeaußenminister Gennadi Gatilow.

Tränen bei Karadžić' Opfern

Leonid Kalaschnikow, Vizevorsitzender des außenpolitischen Ausschusses in der Duma, nannte den Richterspruch ungerechtfertigt. „Das ist ein einseitiges Vorgehen des Westens. Die Kosovaren hat man schon lang laufen gelassen, dagegen wird den Serben ein faires Gerichtsverfahren verweigert.“

Vor der Pforte des UN-Kriegsverbrecher-Tribunals in Den Haag waren am Donnerstag dagegen Tränen der verbitterten Angehörigen der Opfer geflossen, die das Strafmaß von 40 Jahren Haft als zu niedrig empfanden. Und nicht nur wegen des Freispruchs vom Vorwurf des Völkermords in sieben weiteren Kommunen (neben Srebrenica) zeigten sich Opfer und frühere Lagerinsassen enttäuscht.

Denn von der erwarteten lebenslangen Strafe hatten die Richter überraschend abgesehen. Bei Anrechnung der bisherigen Haft und des üblichen Nachlasses eines Drittels der Strafe könne Karadžić 2035 mit der Entlassung rechnen, sofern er das 90. Lebensjahr erreiche, rechnet die serbische Zeitung „Blic“ vor. (ros/ag.)

AUF EINEN BLICK

Das UN-Kriegsverbrechertribunal für Ex-Jugoslawien mit Sitz in Den Haag hat den früheren bosnischen Serbenführer Radovan Karadžić am Donnerstag wegen Völkermords (in Srebrenica), Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu 40 Jahren Haft verurteilt. Karadžić hat bereits angekündigt, in Berufung zu gehen. Er ist 2008 in Belgrad gefasst worden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2016)

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