Flucht aus dem Gefängnis der IS-Hauptstadt

A Syrian youth Khaled from Raqqa walks on snow wearing slippers in the Bekaa Valley refugee camp in Lebanon after the first heavy snow storm hit Lebanon
A Syrian youth Khaled from Raqqa walks on snow wearing slippers in the Bekaa Valley refugee camp in Lebanon after the first heavy snow storm hit LebanonREUTERS
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Fünf Monate und 20 Tage wurde Bawer von den Extremisten in ihrer Hochburg Raqqa festgehalten. Der junge Kurde konnte entkommen. Heute lebt er in Wien und hofft auf einen Neubeginn als Architekt.

Wien. Trotz reichlich gedeckten Frühstückstischs muss Bawer (Name geändert) von seiner Tante erst zum Essen aufgefordert werden. Weil der hagere Teenager kaum etwas zu sich nimmt, legt seine Tante ein bisschen von allem auf seinen Teller. „Während der Gefangenschaft gab es nur zweimal täglich was zu essen, wenn man es überhaupt essen nennen kann“, erzählt er, während er die Oliven auf seinem Teller hin und her schiebt. Heute lebt der 17-Jährige in der kleinen Ein-Zimmer-Wohnung seiner Tante in Wien und besucht hier das Gymnasium. Doch Bawer hat schreckliche Erfahrungen zu bewältigen: Fünf Monate und 20 Tage war er in der Gefangenschaft der Extremisten des sogenannten Islamischen Staates (IS).

Der junge Mann stammt aus Raqqa in Syrien. Kurz nach der Besetzung der Stadt durch die Jihadisten wurde der damals 14-Jährige gemeinsam mit seinem Vater in dessen Autowerkstatt gefangen genommen. Noch bevor die Extremisten die Wohnung der Familie beschlagnahmen konnten, gelang Bawers Mutter und seinen Geschwistern die Flucht aus Raqqa.

„Ihr seid Kuffar (Ungläubige, Anm.)“, wurde ihnen als Grund für ihre Festnahme genannt. Es ist Bawer jedoch noch immer ein Rätsel, warum gerade sie als sunnitische Muslime Ungläubige sein sollten. Heute glaubt er, dass die Sympathie seines Vaters für die kurdische Partei PYD in Syrien der wahre Grund für die Festnahme gewesen sein muss. In ihrem Stadtviertel kannte jeder die kurdische Familie, deren nahe Verwandte sich den kurdischen Einheiten der YPG/YPJ anschlossen.

In den fünf Monaten und 20 Tagen seiner Gefangenschaft sah Bawer das Tageslicht nur ein einziges Mal. Er wurde im Saal des ehemaligen Amtshauses der Stadt festgehalten, war gezwungen, mit mehreren Männern unterschiedlichen Alters wie Tiere zusammengepfercht zu leben, wurde grundlos erniedrigt und von gnadenlosen Wärtern mit der Enthauptung bedroht.

Raqqa ist die größte vom IS in Syrien eroberte Stadt. Die Islamisten drangen bereits im März 2013 in Raqqa ein. Ein Jahr später übernahm der IS die Stadt dann gänzlich und erklärte sie zu seiner Hauptstadt.

IS-Wächter mussten nur zweimal beten

Bawer erinnert sich daran, wie sich Raqqa veränderte: „Raqqa, eine einst vollkommen westliche Stadt, wurde nun von bewaffneten Männern mit langen Bärten und kurzen Hosen regiert. Es waren kaum Frauen in den Straßen zu sehen, und die wenigen, die man sah, waren alle schwarz verhüllt.“ Raqqa war ein Zentrum des IS-„Kalifats“ geworden, in dem öffentliche Massengebete gehalten werden und die Religionspolizei die Bekleidungsvorschriften kontrolliert.

Der aus einer liberalen Familie stammende Bawer wurde während seiner Gefangenschaft gezwungen, fünfmal am Tag zu beten, während die Wärter, die sich als Mudjaheddin bezeichneten, also als Verteidiger und Verbreiter des Islam, sich selbst von drei Gebetsdiensten befreiten und das Gebet nur zweimal täglich verrichteten.

Nach fünf Monaten und zwanzig Tagen sperrte gegen Abend „der Wärter mit hellerem Haar und einem hinkenden rechten Bein“ die Tür auf und ließ alle Häftlinge gehen. Zuerst konnte niemand verstehen, was passierte und warum der tyrannische Wärter sie befreite. Ob das eine Falle ist, ein Spiel, bei dem sie getestet werden? Erst später fanden sie heraus, dass der Bewacher nach einem heftigen Streit mit seinen Mitkämpfern aus Rache die Häftlinge freiließ. Nach kurzem Zögern flohen schließlich Bawer, sein Vater und die anderen Gefangenen.

Über die Balkanroute nach Österreich

Nach einer kurzen, unruhigen Zeit, in der sie ihre Flucht aus Raqqa vorbereiteten, trennten sich Bawer und sein Vater von der Stadt, in der er geboren wurde und aufgewachsen ist. Zuerst gingen sie nach Kobane, wo sich die restliche Familie aufhielt. Ein Jahr später wurde aber auch dieser Ort Angriffsziel des IS: Kobane wurde von den Extremisten attackiert. Es begann ein blutiger Kampf um die Stadt. Bawers Familie war erneut zur Flucht gezwungen. Ein weiteres Jahr verbrachten sie in Urfa, einer kurdischen Stadt an der türkisch-syrischen Grenze. Bawer entschied sich schließlich, einen weiteren schwierigen Fluchtweg anzutreten. Er kam über Griechenland und die Balkanroute zu seiner Tante nach Österreich.

Jetzt schmiedet er wieder Zukunftspläne. Er will Architektur studieren, um die von Bomben zerstörten Städte seiner Heimat wieder aufzubauen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2016)

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