Im Land der neuen Seen

TOURISMUS ( IN SALZBURGER BERGEN )
TOURISMUS ( IN SALZBURGER BERGEN )APA
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Geografie. Der Rückgang der Gletscher verändert die Landschaft: Wo das Eis verschwindet, entstehen neue Seen. Allein in den vergangenen zehn Jahren haben sich in den heimischen Alpen 45 Gletscherseen neu gebildet.

Die Türkische Zeltstadt gibt es nur noch in der Erinnerung. Seit sich das Obersulzbachkees im Salzburger Pinzgau weit zurückgezogen hat, ist der markante Eisbruch, der aufgrund seiner Form an ein Zeltlager erinnerte, verschwunden. Ein Stück oberhalb jener Stelle, wo sich die Türkische Zeltstadt befand, ist heute ein See. Der Wanderweg musste verlegt werden.

Der seit 1998 existierende See beim Obersulzbachkees ist kein Einzelfall. Ganz im Gegenteil: Seit der letzten Kleinen Eiszeit bis etwa 1850 sind in den heimischen Alpen insgesamt 264 Seen neu entstanden. „Das Entstehen und Verschwinden von Seen ist ein natürlicher Prozess, den es immer schon gegeben hat“, betont Jan-Christoph Otto vom Fachbereich für Geografie und Geologie der Universität Salzburg. Nur verläuft er in Zeiten des Klimawandels schneller als früher.

Blick in die Vergangenheit

Seit dem vergangenen Jahr arbeitet Otto mit Kollegen am Projekt Futurelakes. Dabei wird untersucht, wie und wo in den vergangenen Jahren Gletscherseen in den österreichischen Bergen entstanden sind. Der Blick in die Vergangenheit erlaubt auch Vorhersagen: Mithilfe der erhobenen Daten werden Modelle errechnet, die das Potenzial für künftige Seenbildungen einschätzen sollen.

Die Prognosen der Klimaforscher und Glaziologen sind eindeutig: Wenn die Temperaturveränderung so weitergeht, werden in der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts nur mehr sehr wenige Gletscherreste in den Alpen vorhanden sein. Der Großteil des heute noch existierenden Eises wird abschmelzen – und dabei nicht nur felsdurchsetzte graue Moränenfelder freigeben, sondern auch viele blau, grün oder türkis leuchtende Seen im Hochgebirge hinterlassen.

„Die Landschaft wird ganz anders aussehen als heute“, ist Otto sicher: Statt der großen weißen Gletscherflächen werden viele kleine und größere Seen das Hochgebirge prägen. Doch nicht nur optisch hat das Auswirkungen. Die neuen Seen bringen Veränderungen im Wasserhaushalt, beeinflussen Fauna und Flora und könnten neue Naturgefahren durch Muren und Flutwellen mit sich bringen. Für die Energiewirtschaft könnten die Wasserflächen Potenzial haben, fasst Otto die verschiedenen Aspekte zusammen.

Alle Gletscherseen erfasst

In einem ersten Schritt hat der Salzburger Geograf Johannes Buckel mit Luftbildern alle bestehenden Gletscherseen inventarisiert.

In die Untersuchung flossen nur jene Gewässer mit ein, die größer als 1000 Quadratmeter sind und oberhalb von 1700 Metern – dem Höchststand der Kleinen Eiszeit – liegen.

Das Ergebnis: Derzeit gibt es in diesem Bereich 1626 Seen, die eine Fläche von rund 25 Quadratkilometern bedecken. Seit 1850 sind 264 Gewässer neu entstanden.

Das Wasser sammelt sich in Becken hinter Felsriegeln, Moränen- oder – sehr selten – Eiswällen. Interessant ist dabei der zeitliche Verlauf: Während in den Jahren von 1850 bis 1969 „nur“ 134 neue Seen erfasst wurden, sind es in den zwei Jahrzehnten zwischen 1969 und 1998 insgesamt 51 Seen. Von 1998 bis 2006 entwickelten sich 34, von 2006 bis 2014 insgesamt 45 neue Gletscherseen.

„Es entstehen kleinere, aber deutlich mehr Seen“, konstatiert Buckel. So waren es zwischen 1969 und 1998 durchschnittlich 1,8 Seen pro Jahr, in den vergangenen acht Jahren schon 5,6 Seen pro Jahr. Die unterschiedlichen Zeiträume ergeben sich aus den drei vorhandenen Gletscherstandsmessungen, die in den Jahren 1969, 1998 und 2006 in Österreich durchgeführt wurden und die die Salzburger Wissenschaftler für die Modellierung heranziehen.

Nicht jedes Gewässer bleibt

Doch ist ein See erst einmal entstanden, heißt das noch lang nicht, dass er auch bleibt. Durch den Eintrag von Sedimenten kann das Gewässer relativ rasch wieder verlanden. So wird der rund 40 Meter tiefe Obersulzbachsee wieder kleiner. Der Sandersee unterhalb der Pasterze hat seinen Namen deshalb, weil er langsam wieder versandet. Die Abschätzung der möglichen Lebensdauer eines Sees und die Frage, wie viel Sedimenteintrag es woher gibt, ist ebenfalls ein Aspekt des Projekts der Salzburger Forscher.

Wichtig bei Futurelakes sind die Prognosen. „Wir sehen uns an, wo künftig Seen entstehen könnten“, sagt der Geograf. Die ersten Modellrechnungen deuten darauf hin, dass sich unter den noch existierenden Gletschern rund 160 Vertiefungen befinden, die potenziell ein Gesamtvolumen von 230 Millionen Kubikmeter aufstauen könnten. Das wäre das dreifache Volumen des Mooserbodenstausees in Kaprun.

Becken mit Sediment gefüllt

Ob es tatsächlich einmal so viele zusätzlichen Seeflächen im Gebirge geben wird, muss sich erst weisen. Denn möglicherweise ist so manches Becken, das sich unter dem Gletschereis versteckt, im Lauf der Jahrhunderte schon mit Sediment und anderen Ablagerungen aufgefüllt worden.

LEXIKON

Futurelakes (Formation and future evolution of glacier lakes in Austria) untersucht die durch das Abschmelzen der Gletscher ausgelöste Bildung von Gletscherseen und deren künftige Entwicklung in Österreich. In dem von der Akademie der Wissenschaften geförderten Projekt arbeiten unter anderem Wissenschaftler aus Salzburg, Innsbruck, Wien und der Schweiz zusammen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 26.03.2016)

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