Deborah Feldman: "Ich habe früh meinen eigenen Glauben entwickelt"

Deborah Feldman stieg Anfang 20 aus der ultraorthodoxen Satmar-Gemeinde in Brooklyn aus. Den Glauben hat sie nicht verloren.

Wer an einem Sonntagvormittag durch den Brooklyner Stadtteil Williamsburg in New York schlendert, bekommt kaum Menschen zu Gesicht. Touristen nehmen meist erst am Nachmittag die L-Train zur Bedford Avenue, um die vielen kleinen Vintage-Boutiquen zu besuchen oder in einem der Cafés Matcha-Tee zu schlürfen. Doch wer die Bedford Avenue ein paar Straßenzüge Richtung Süden entlanggeht, fühlt sich plötzlich, als wäre er in einer anderen Stadt. Hier beginnt das angeblich zweitgrößte ultraorthodoxe Viertel außerhalb Israels. Der Sonntag ist hier ein normaler Arbeitstag, an dem die gelben Schulbusse mit hebräischem Schriftzug fahren, die Straßen sind voller Mütter mit zwei, drei, manchmal fünf, sechs oder mehr Kindern sowie Männern in schwarzer Kleidung, mit Backenlocken und großen Mützen. Besucher werden gar nicht erst wahrgenommen.

Genau diese Gegend war zwanzig Jahre lang die Heimat von Deborah Feldman – oder das Gefängnis, wie sie es später nannte. Sie wuchs in der chassidischen Satmar-Gemeinde auf, einer sehr schnell wachsenden ultraorthodoxen jüdischen Glaubensgemeinschaft, die aufgrund ihrer strengen Regeln nicht selten als Sekte bezeichnet wird. Mit Anfang 20 und nach einer Zwangsverheiratung kehrte sie Familie und Gemeinde den Rücken, lebte mit ihrem heute zehnjährigen Sohn zuerst noch einige Zeit in New York und heute in Berlin. Über ihre Kindheit und die Entfremdung von der Gemeinde schrieb sie in ihrem Buch „Unorthodox“, das soeben auf Deutsch erschienen ist. Das Buch landete in den USA innerhalb kürzester Zeit auf den Bestsellerlisten, die Satmar-Gemeinde verdammte das Buch und die Autorin.

Feldman hat bis heute an ihrem Glauben festgehalten. Auch wenn sich der im Lauf ihres Leben stark verändert hat. In ihrer Familie war Gott stets eine strenge, harte Figur, es galt viele Regeln zu beachten. Hartherzigkeit vor allem gegenüber Kindern war eine der Grundeigenschaften der Erwachsenen. „Es ist schwer, Dinge zu hinterfragen, die Erwachsene dir mitgeben, wenn du ihnen vertraust.“ Dennoch stellte Feldman sich früh die Frage, wieso der Gott, von dem ihre Großmutter, ihre Onkeln und Tanten sprachen, ein so böser Mensch sein sollte. „Ich dachte mir: Ich kenne Gott, er ist mein Freund. Es kann nicht wahr sein, was sie über ihn sagen. Ich habe schon sehr früh begonnen, meinen eigenen Glauben zu entwickeln.“


Gott und der Holocaust. Großgezogen wurde sie von Holocaust-Überlebenden. „Das Leiden war immer ein Teil von ihnen und ihrem Glauben.“ Sie sei mit dem Wissen aufgewachsen, dass Gott Leid nicht verhindern könne. „Ich habe immer das Gefühl gehabt, da ist jemand da oben und es gibt eine Bestimmung für mich. Aber es geht nicht darum, dass Gott Unheil verhindert. Ich habe erst sehr spät verstanden, dass Gott nicht für den Holocaust verantwortlich ist. Selbst er konnte ihn nicht verhindern.“ Wenn Kinder heute also fragen, wie es Gott zulassen könne, dass so viele Menschen auf der Flucht sind und Schreckliches erleben, dann würde sie darauf sagen: Gott ist da, aber er kann das nicht beeinflussen. Es geht darum, was wir tun können, um den Flüchtlingen zu helfen.

Warum sich bei Deborah Feldman schon so früh Zweifel an der Satmar-Gemeinde regten und sie sich als junge Frau entschied, die Sicherheit, die eine solche Gemeinschaft bietet, gegen ein zwar ungewisses, aber freies Leben einzutauschen, erklärt sie so: Sie habe keine richtigen Vorbilder in ihrer Familie gehabt. „Ich hatte viel Zeit nachzudenken, ohne von irgendwem beeinflusst zu werden.“ Ihr Vater galt aufgrund einer Entwicklungsstörung und des merkwürdigen Verhaltens, das er dadurch an den Tag legte, zuerst auf dem Heiratsmarkt lang als unvermittelbar, später hielt er sich mit Aushilfsjobs über Wasser. Der Tochter fiel bald auf, dass ihr Vater anders war. Vielleicht gelang es ihr deshalb leichter als anderen jungen Frauen in der Gemeinschaft, Fragen zu stellen. „Meine innere Stimme hat sich irgendwann eingeschaltet und wurde immer lauter.“

Steckbrief

Deborah Feldman,
geb. 1986 in New York, wuchs in der chassidischen Satmar-Gemeinde im zu Brooklyn gehörenden Stadtteil Williamsburg, New York, auf, wurde zwangsverheiratet und bekam einen Sohn.

Mit Anfang 20 kehrte sie der Gemeinschaft den Rücken zu und lebte noch einige Zeit in den USA und schrieb ihre Geschichte in dem Buch „Unorthodox“ nieder. Heute lebt sie mit ihrem Sohn in Berlin, soeben erschien „Unorthodox“ im Secession Verlag auf Deutsch.

Mathias Bothor

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.03.2016)

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