„Die einzige Freiheit ist innere Freiheit“

Natalja Estemirowa wusste, wie gefährlich es war, sich in Tschetschenien für Menschenrechte einzusetzen. Sie kämpfte trotzdem weiter. Bis sie ermordet wurde. Eine Erinnerung an die Journalistin.

LONDON. Ein unerwarteter Anruf spätabends: „Natascha ist entführt und ermordet worden.“ Ungläubiges Weigern, die Nachricht zu begreifen: „Was sagst du da?“ Ein verzweifelter Aufschrei: „Sie ist tot, verdammt!“ Es ist wahr geworden, was wir immer geahnt haben, aber nie wissen wollten: Natascha (Kosename für Natalja) Estemirowas Kampf für die Menschenrechte in Tschetschenien war eine lebensgefährliche Mission.

Sie war eine große, zarte und zerbrechlich wirkende Frau. Sie sprach mit leiser Stimme, und als wir das erste Mal in London zu einem Interview zusammentrafen, waren auf der Tonbandaufnahme am Ende die Hintergrundgeräusche lauter als Nataschas Stimme. Das war vor weniger als zwei Jahren, als sie von der Menschenrechtsgruppe „RAW in WAR“ den ersten Anna-Politkowskaja-Preis bekam.

Mit der berühmten Journalistin hat Estemirowa, die Historikerin, Journalistin und Menschenrechtsaktivistin war, eng zusammengearbeitet und ihr die Augen geöffnet, was Russland in Tschetschenien angerichtet hat. Gemeinsam mit dem Anwalt Stanislaw Markelow bildeten sie ein Triumvirat, das den Kampf um die Menschenrechte und die Wahrheit in Tschetschenien am Ende fast im Alleingang bestritt. Politkowskaja wurde vor drei Jahren ermordet. Markelow im Jänner in Moskau auf offener Straße erschossen. Nun ist auch Estemirowa tot.

Hinter ihrer leisen Zurückhaltung steckte ein eiserner Wille. Trotz aller Anfeindungen blieb sie bis zuletzt in Grosny. Estemirowa war verwitwet und hinterlässt eine 15jährige Tochter. Über ihr Leben in der vom Krieg in jeder Hinsicht zerstörten Stadt sagte sie: „Die einzige Freiheit ist innere Freiheit.“

Bei unserem letzten Gespräch, als der Kreml schon den „Sieg“ in Tschetschenien feierte, sagte sie: „Für manche Menschen wird dieser Krieg nie enden.“ Am 15.Juli 2009, um 17.20 Uhr Ortszeit, wurde Natascha Estemirowa als sein bisher letztes Opfer entdeckt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.07.2009)

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