Analyse: Das Problem kleiner Fußballnationen

Gesetzt: Christian Fuchs ist unter Marcel Koller linker Außenverteidiger, Kapitän und Führungsspieler.
Gesetzt: Christian Fuchs ist unter Marcel Koller linker Außenverteidiger, Kapitän und Führungsspieler.(c) REUTERS (LEONHARD FOEGER)
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Österreichs Nationalmannschaft hat zweieinhalb Monate vor Beginn der Euro einen funktionierenden Stamm, aber kaum adäquaten Ersatz. Allein ist man mit diesem Problem nicht.

Wien. Fußball kann brutal, ja manchmal sogar ungerecht sein. Das Videostudium knapp zwölf Stunden nach dem 1:2 gegen die Türkei in Wien hatte Marcel Koller in seiner Annahme bestätigt. „Wir haben keine Torchance zugelassen und trotzdem verloren. Das ist ein bisschen bitter und ärgerlich.“ Genau so ließe sich auch der folgenschwere Ausflug von Torhüter Ramazan Özcan in der zweiten Halbzeit umschreiben. Der 31-Jährige mit türkischen Wurzeln wurde zur tragischen Figur des Spiels, als er Arda Turan den Ball außerhalb des Strafraums per flachem Zuspiel perfekt servierte – der Rest war Form- und Gefühlssache. Koller beurteilte die Situation folgendermaßen: „Je weiter hinten du spielst, desto brutaler wird es, wenn du Fehler machst. Wenn der Stürmer das Tor nicht trifft, ist das Geschrei nicht so groß als wenn der Torhüter ein Tor verschuldet.“

Sich schützend vor seine Spieler zu stellen, wenn die Situation es verlangt, liegt quasi im Naturell des Schweizers. Özcan, ein erprobter Torhüter mit internationaler Erfahrung von über 150 Spielen in Deutschland und der Türkei, wird im Sommer als einer von 23 Spielern zur Europameisterschaft nach Frankreich fliegen. Daran gibt es keinerlei Zweifel, weil in den nächsten Wochen keine neuen Torhüterhelden mit österreichischem Pass die Fußballbühne betreten werden.

Die Qualität der zweiten Garde

Özcan, meinte Koller, sei stets ein wichtiger Spieler für die Mannschaft gewesen. „Er hat sich immer reingehauen, sorgt für gute Stimmung.“ Und dann sagte der Teamchef einen bemerkenswerten Satz: „Würde ich jeden bestrafen, der einen Fehlpass macht, dann wären wir nicht dort, wo wir jetzt sind.“ Kollers Vertrauen ist kaum zu erschüttern, seine 23 Mann für Frankreich hat er mitunter deshalb gewiss schon längere Zeit im Kopf. Dass nicht alle davon auf ähnlich hohem Niveau agieren, nicht alle für die Startformation taugen, ist die wohl größte Erkenntnis aus den jüngsten Testspielen. So ist Özcan in der Regel kein adäquater Ersatz für Almer, Burgstaller nicht für Harnik, Okotie nicht für Janko, Ilsanker nicht für Baumgartlinger. Diese Liste ließe sich freilich noch fortsetzen.

Koller wusste das schon vorher, dem breiten Publikum wurde es in den jüngsten Spielen öffentlichkeitswirksam vorgetragen. „Österreich ist nicht die einzige Nation, die dieses Problem hat“, bemerkte der 55-Jährige und zog den Vergleich mit ebenfalls kleinen Fußballnationen wie der Schweiz, Ungarn und der Slowakei. „Auch sie haben keine 30, 40 gleichwertigen Spieler. Dass du auf jeder Position auf zwei, drei Spieler zurückgreifen kannst, ist natürlich nicht der Fall.“

Spätestens nach den Spielen gegen Albanien und der Türkei ist vielen klar geworden, warum der Zürcher in der Vergangenheit weitestgehend auf personelle Experimente verzichtete, er darum bemüht war, einen verlässlichen Stamm zu finden. Und doch ist es unerlässlich, dass Koller nicht ausschließlich seiner favorisierten Elf das Vertrauen schenkt. Eine EM-Endrunde samt der Vorbereitung darauf ist lang und kräfteraubend, Ausfälle oder Sperren sind im Turnierverlauf beinahe unumgänglich.

Österreich wird in Frankreich nicht zu den ersten Titelanwärtern zählen. Selbst dann nicht, wenn ausschließlich Kollers Wunschelf alle Spiele bestritte. Der Teamchef wusste auch das schon vorher. Er sagt: „Wir werden nicht durch die Euro marschieren, das hat nichts mit Zurückhaltung unsererseits zu tun. Es gibt immer einen Gegner, der ebenfalls gewinnen will. Ungarn wird im ersten Spiel eine Möglichkeit suchen, uns Probleme zu bereiten.“

Auf Marcel Koller warten bis zum EM-Auftakt gegen Ungarn in Bordeaux am 14. Juni hoch intensive Wochen. Von den Gruppengegnern Ungarn, Portugal und Island sowie den Testspielkonkurrenten Malta (31. Mai) und Niederlande (4. Juni) wird er insgesamt 55 Spiele analysieren – und Möglichkeiten suchen, dem Gegner Probleme zu bereiten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2016)

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