Brasilien: Rousseff hinterlässt ein Trümmerfeld

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Nach dem Absprung ihres wichtigsten Koalitionspartners steht Brasiliens Präsidentin, Dilma Rousseff, vor dem Aus. Der Korruptionsskandal bedroht das gesamte politische System.

Brasilia/Buenos Aires. Brasilien erlebt eine Revolution in Zeitlupe. Seit Monaten zerfällt das politische Machtgefüge und lässt die Präsidentin immer einsamer zurück. Zigmal hat die einstige Guerillera Dilma Rousseff bekräftigt, sie werde nicht freiwillig ihren Sessel räumen. Und doch konnte sie zusehen, wie Feinde und vermeintliche Freunde eine Mine nach der anderen vergruben. Am Dienstag (Ortszeit) gab es eine heftige Detonation.

Mit lautem Jubel feierten Hunderte Delegierte des Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB) den Beschluss des Parteipräsidiums, aus der seit 2003 gepflegten Regierungskoalition mit Rousseffs Arbeiterpartei (PT) auszusteigen. „PT raus“, skandierte der Saal und „viva Brasil“.

Die PMDB – ideologisch flexibel, aber finanziell interessiert – war Rousseffs wichtigste Stütze in der einstmaligen Acht-Parteien-Koalition. Nun steht die Präsidentin ohne Mehrheit da, was alle Hoffnungen auf Reformen zunichtemacht. Und schon melden die Medien, dass drei weitere Koalitionsparteien ebenfalls aussteigen könnten. Sicheren Zuspruch bekommt Rousseff nur noch von zwei Links-außen-Fraktionen, sicher hat sie nicht mehr als 90 der 513 Stimmen im Kongress.

Zu wenig, um zu bestehen

Das ist deutlich zu wenig, um das wohl in der dritten Aprilwoche kulminierende Amtsenthebungsverfahren zu überstehen. Seit Mitte März berät eine Kongresskommission darüber, ob Rousseff tatsächlich die Staatsfinanzen geschönt hat, um im Wahlkampf 2014 besser dazustehen. Ein Schuldspruch in der Kommission ist höchst wahrscheinlich.

Sollten im Plenum des Kongresses mindestens 342 Abgeordnete für die Amtsenthebung votieren, ginge der Vorgang in den Senat. Sollte dieser das Verfahren annehmen, wäre Rousseff Ende April ihr Amt vorläufig los, und der Vizepräsident übernähme die Regierungsleitung. Rousseffs Vize ist der 75-jährige Michel Temer, Anwalt, langjähriger Kenner des parlamentarischen Gebens und Nehmens sowie Parteichef der PMDB. Deren Delegierte mühten sich nicht um fadenscheinige Entschuldigungen für den Bruch des Koalitionsabkommens. Sie schrieen: „Brasil presente, Temer presidente!“

Schon seit Monaten rückte Rousseffs Vize immer weiter von der Präsidentin ab. Seit Wochen berichten die Medien, Temer plane mit der sozialdemokratischen Opposition eine Regierung der nationalen Einheit, welche die Wirtschaft auf Schiene setzen und den politischen Flächenbrand löschen könnte. In den Chefetagen hat diese Variante viele Anhänger, der mächtige Industriellenverband von São Paulo unterstützt die Amtsenthebung offen, und die Börse feiert jeden Schlag gegen die Präsidentin mit Kursgewinnen. Um fast 20 Prozent legte der Bovespa-Index allein im März zu.

Doch über dieser Morgenröte hängen gleich mehrere dunkle Wolken: Michel Temer gehört, wie die PMDB-Präsidenten von Kongress und Senat, zu den Hauptverdächtigen der Petrobras-Korruptionsaffäre. Die Ermittler vermuten, dass Teile der Wahlkampagne 2014 mit schmutzigen Geldern aus dem Überpreisschema bei dem Staatskonzern finanziert wurden.

Systematische Bestechung

Derzeit schreibt eine ehemalige Wahlkampfmanagerin der PT an ihrer Kronzeugenaussage. Außerdem hat auch der inzwischen zu 19 Jahren und vier Monaten verurteilte Marcelo Odebrecht seine Kooperation mit den Ermittlern angekündigt. Bei Südamerikas größtem Baukonzern fanden die Ermittler gar eine komplette Abteilung, die systematisch Schmiergelder an Entscheidungsträger zahlte, und zwar für sämtliche staatliche Bauaufträge, also auch für WM-Stadien, Olympia-Bauten, U-Bahnen, Häfen, Straßen, Tunnel. Mehr als 300 Politikernamen scheinen auf einer Empfängerliste auf – und 18 Parteien aus Regierung und Opposition. Dieser Datenssatz, inzwischen in den Safes des obersten Gerichtshofs, hat das Potenzial, das gesamte politische System in die Luft gehen zu lassen. Bei den Anti-Dilma-Protesten fordert eine stetig wachsende Minderheit gar die Rückkehr der Militärs.

Wird ein Präsident Michel Temer den agressiven Ermittlungsrichter Sérgio Moro stoppen? Wird das oberste Wahlgericht womöglich die gesamte Wahl 2014 kassieren – und damit auch Temer wegfegen? Kommt es darum zu Neuwahlen? Oder werden solche gar noch von Rousseff selbst ausgerufen? Entsprechende Szenarien wägt die PT-Führung seit Wochen ab. Am 5. August wird Brasiliens Staatsoberhaupt die 31. Olympischen Sommerspiele in Rio de Janeiro eröffnen. Niemand kann heute sagen, wer diese Persönlichkeit sein wird.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 31.03.2016)

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