Während Griechenland seine Gesetze novelliert, um Abschiebungen zu ermöglichen, warnt Amnesty International davor, dass Ankara syrische Flüchtlinge gegen ihren Willen nach Syrien schickt.
Brüssel. Der kommende Montag ist für Europa ein Tag der Wahrheit: Ab diesem Tag soll nämlich Griechenland mit der Rückführung jener Flüchtlinge und Migranten in die Türkei beginnen, die seit dem 20. März von der Türkei aus die griechischen Ägäisinseln erreicht haben – derzeit handelt es sich um rund 5000 Personen. Für jeden abgeschobenen „irregulären Migranten“ will die EU einen „regulären“ syrischen Flüchtling aus Lagern in der Türkei aufnehmen, Flüchtlinge anderer Nationalitäten (beispielsweise Iraker, Afghanen oder Eritreer) sollen in der Türkei Unterschlupf und Betreuung finden. So weit die Theorie.
Ob die Praxis diesen Vorgaben entsprechen wird, hängt von mehreren Faktoren ab. Da wären zunächst einmal die rechtlichen Rahmenbedingungen in Griechenland selbst, denn bis dato erkennt Athen seinen Nachbarn nicht als sicheren Herkunfts- bzw. Drittstaat an – was Abschiebungen unmöglich macht. Freitagnachmittag trat das griechische Parlament zu einer Plenarsitzung zusammen, um das Gesetzbuch nachzujustieren. Dem Vernehmen nach soll es dabei nicht um ein Gütesiegel für die Türkei gehen, sondern um die Übernahme der EU-Richtlinie zu Asylrecht und sicheren Drittstaaten. Die griechische Regierung sieht nämlich bei der Anerkennung der Türkei als sicherer Drittstaat die EU in der Pflicht.
Keine Konventionsflüchtlinge
Die Implementierung der Richtlinie ist also ein Umweg, der Athen erlaubt, mit Verweis auf EU-Regeln die Abschiebungen durchzuführen – sofern die Betroffenen nicht glaubhaft belegen können, dass ihr Leben in der Türkei in Gefahr ist. Doch das bedarf auch der türkischen Kooperation. Im Abkommen mit der EU ist nämlich festgehalten, dass Ankara allen abgewiesenen Schutzbedürftigen ein Schutzniveau bieten soll, das mit der Genfer Flüchtlingskonvention vergleichbar ist. Das Problem: Als sogenannte Konventionsflüchtlinge erkennt die Türkei nur Europäer an, Syrer genießen temporären Schutz, alle anderen gelten nicht als schutzbedürftig. Der Hauptgrund für diesen selektiven Umgang mit der internationalen Gesetzgebung dürfte die Tatsache sein, dass Konventionsflüchtlinge automatischen Anspruch auf Sozialleistungen und Zugang zum Arbeitsmarkt haben – und in der Türkei halten sich geschätzte 2,7 Millionen Syrer auf. Rechtlicher Verbesserungsbedarf besteht also auch auf türkischer Seite.
Problem Nummer drei ist die Logistik des Unterfangens. Konkret geht es darum, ob Griechenland die ankommenden Flüchtlinge rasch genug „abfertigen“ kann und ob in der Türkei genug Quartiere für die abgeschobenen Personen zur Verfügung stehen. Am Freitag brachen jedenfalls nach griechischen Medienberichten mindestens 500 Flüchtlinge aus dem Aufnahmezentrum auf Chios aus und machten sich auf den Weg zum Hafen der Insel. In der Nacht davor war es in dem Lager zu Ausschreitungen gekommen, als Afghanen und Syrer aufeinander losgingen. Als Reaktion zog die NGO Ärzte ohne Grenzen ihr Personal aus dem Lager ab.
Apropos Nichtregierungsorganisationen: Sie kritisieren den Plan heftig und weisen seit Wochen darauf hin, dass die Türkei nicht korrekt mit Flüchtlingen und Migranten umgehe. So berichtete Amnesty International von massenhaften Abschiebungen syrischer Flüchtlinge in ihre Heimat. Auch die Vereinten Nationen sprechen sich gegen Abschiebungen aus Griechenland aus: Zunächst müssten Sicherheitsgarantien für die betroffenen Menschen in Kraft sein, sagte die Sprecherin des Flüchtlingshilfswerks UNHCR gestern.
Ob der Plan die Zahl der ankommenden Flüchtlinge nachhaltig reduziert, muss sich noch weisen. Nach Angaben der Internationalen Organisation für Migration kamen im ersten Quartal 2016 170.000 Personen über das Mittelmeer nach Europa – acht Mal mehr als im Vergleichszeitraum des Vorjahres. (la)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 02.04.2016)