„Ein Hauch von Hartz IV täte Österreich gut“

PK WIFO UDN IHS ´KONJUNKTURPROGNOSE 2016 UND 2017´: AIGINGER
PK WIFO UDN IHS ´KONJUNKTURPROGNOSE 2016 UND 2017´: AIGINGER(c) APA/GEORG HOCHMUTH
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In der Eurozone finde derzeit eine „kleine Erholung“ statt – bricht sie ab, sei das „verlorene Jahrzehnt“ komplett, sagt Wifo-Chef Karl Aiginger. Zur Integration von Flüchtlingen könne man vorübergehend auf Niedriglohnjobs setzen.

Die Presse: Herr Aiginger, ist das relativ niedrige Wirtschaftswachstum noch Ausdruck einer Wirtschaftskrise, oder ist das der neue Normalzustand?

Karl Aiginger: Es ist absolut nicht der neue Normalzustand. Die Wirtschaftsleistung der EU ist jetzt etwa genauso groß wie vor der Krise. Wir haben also beinahe ein verlorenes Jahrzehnt hinter uns. Derzeit gibt es eine kleine Erholung. Aber wenn diese auch noch abbricht, ist das verlorene Jahrzehnt komplett.

Kommt das Wachstum zurück, oder müssen wir uns an die niedrigen Wachstumsraten der vergangenen Jahre gewöhnen?

Wir können uns nicht daran gewöhnen, denn bei diesem niedrigen Wachstum gibt es keine Möglichkeit, die Budgetdefizite zurückzufahren und die Arbeitslosigkeit zu senken. Wir haben Rucksäcke, derentwegen wir zumindest noch zehn Jahre ein Wachstum zwischen zwei und drei Prozent brauchen. Über die Zeit danach können wir uns unterhalten: darüber, wie wir bei weniger Wachstum mehr Wohlstand erreichen können.


Und zwar wie?

Europa muss seine Strategie ändern. Wir müssen die Investitionen, den Konsum und die Staatsausgaben umstellen, wir müssen weg vom Fokus auf fossile Brennstoffe. Wir brauchen alternative Antriebssysteme, andere Tankstellen, ein anderes Verkehrsverhalten, Teilen statt Kaufen. Der Konsum muss weniger auf Verschleiß ausgerichtet sein, Produkte müssen länger halten. Aber in einem ersten Schritt müssen wir durch Investitionen in neue Technologien und Ausbildung gleichzeitig Wachstum und Beschäftigung steigern und die Budgetdefizite in der EU senken.


Wo könnte man sparen?

Dort, wo verschwendet wird. Die EU hat 28 Verteidigungssysteme und mehr Militärausgaben als China und Russland zusammen. Aber sie ist nicht imstande zu überwachen, welche Flugzeuge in der Ukraine die Grenze passieren, oder Flüchtlinge aus dem Mittelmeer zu ziehen. Oder die Agrarförderung: Kleine und mittlere Bauern und die Biolandwirtschaft soll man fördern. Aber der Großteil der EU-Gelder ist flächengebunden und geht an Großbetriebe. Das gehört stark reduziert bis abgeschafft. Und alle EU-Länder müssen schauen, dass sie das Geld, das in Steueroasen fließt, nach Hause holen. Dieses ganze Geld könnte man in Forschung investieren und damit zu den USA aufholen.

Bis auf Griechenland haben alle Länder, die unter dem EU-Rettungsschirm waren, diesen verlassen. Darf man das als Indiz werten, dass das Schlimmste der Krise vorbei ist?

Ja, aber nur in dem Sinne, dass die Volkswirtschaften, die vor dem Kollaps standen, in einem ruhigeren Wasser sind – außer Griechenland. Das zeigt, dass diese Programme wirken. Aber sie waren nicht zukunftsgerichtet. Es wurde überall gespart, auch bei den niedrigsten Einkommen, aber nicht investiert: darin, dass neue Firmen entstehen, dass die Qualifikationen der Arbeitslosen verbessert werden, die Chancen der Solar- und Windenergie genutzt wurden. Es gab keine echten Reformen.


Welche Gefahren gibt es für den Aufschwung in der Eurozone?

Vor allem die politischen Risken in der Umgebung Europas. Bei einer normalen Entwicklung würden die Nachbarregionen der EU zwischen fünf und sieben Prozent jährlich wachsen und wären ein neuer Exportmarkt, quasi China und Indien vor der Haustür. Aber derzeit ist die Hälfte dieser Länder instabil. In dem Moment, in dem Frieden einkehrt, kommt das Wachstum zurück. Osteuropa wächst schon jetzt um zwei Prozent stärker als Westeuropa, hat sich also wieder stabilisiert. Wäre das in der Schwarzmeerregion und in Nordafrika auch so, würde uns das wirtschaftlich sehr nützen. Aber wenn die Kriegshandlungen weitergehen und Europa von den Flüchtlingen in einer ungeordneten Weise überschwemmt wird, geht viel Wachstumspotenzial verloren, und politischer Extremismus gewinnt an Boden.


Im Durchschnitt der Eurozone sinkt die Arbeitslosigkeit kontinuierlich, in Österreich steigt sie. Was macht Österreich falsch?

Freuen wir uns zunächst darüber, dass die Arbeitslosigkeit in der Eurozone sinkt, obwohl das Wachstum teilweise noch sehr niedrig ist. Aber sie sinkt von einem hohen Niveau aus und am stärksten in den Ländern, in denen sie am höchsten ist. Der Wermutstropfen ist, dass sie vor allem deshalb zurückgeht, weil es mehr Teilzeitarbeit gibt, und das nicht unter jenen, die weniger arbeiten wollen, sondern unter jenen, die ohnehin wenig verdienen. So steigt die Armut. Das ist noch nicht nachhaltig.

Österreich hatte lange die niedrigste Arbeitslosigkeit in der EU. Jetzt liegen sechs Länder vor Österreich. Verspielen wir unseren Vorsprung?

Die österreichische Bevölkerung wächst aufgrund der starken Zuwanderung rasch. Daher haben wir das Problem – oder das Glück –, dass wir ein stark zunehmendes Angebot an Arbeitskräften haben. In allen Prognosen hieß es, Österreich und Deutschland können nicht wachsen, weil die Bevölkerung im arbeitsfähigen Alter schrumpft. Das ist nun vorbei. Jetzt gibt es deutlich mehr Angebot an Arbeitskräften als Nachfrage. Gleichzeitig fehlt es an qualifizierten Arbeitskräften. Damit wird die Arbeitsmarktpolitik zur Bildungspolitik.

Sehen Sie die Gefahr, dass sich die Arbeitslosigkeit in Österreich verfestigt?

Ja, wenn die Wirtschaft nicht um mindestens 1,5 Prozent wächst, steigt die Arbeitslosigkeit weiter. Dann bleiben die schlechter Ausgebildeten länger arbeitslos.


Finanzminister Hans Jörg Schelling hat letztes Jahr Sympathie für das deutsche Modell gezeigt. Soll Österreich Hartz IV einführen?

Ein Hauch von Hartz IV würde Österreich guttun. Nicht so flächendeckend wie in Deutschland. Aber die meisten Flüchtlinge wird man nur dann auf dem Arbeitsmarkt unterbringen, wenn sie anfangs Jobs übernehmen, die bisher nicht ausgefüllt wurden, und das zu einem geringen Stundensatz. Zum Beispiel kleinere Handwerksarbeiten in privaten Haushalten oder gemeinnützige Tätigkeiten. In Deutschland ist mit Hartz IV ein dauerhafter zweiter Arbeitsmarkt mit Niedriglohnjobs entstanden – diesen will ich auf Dauer in Österreich nicht haben. Aber in einer Notsituation kann das richtig sein – auf begrenzte Zeit, mit klaren Regeln und Ausbildungskomponente. Und es darf die Kollektivverträge nicht unterlaufen.

Zur Person

Karl Aiginger leitet seit 2005 das Österreichische Institut für Wirtschaftsforschung. Für die EU-Kommission hat er zusammen mit 33 Forschungsteams eine Strategie für nachhaltiges soziales Wachstum erarbeitet. [ APA ]

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