Aufgewachsen in einer jüdischen Sekte: die erschütternde Autobiografie von Deborah Feldman.
An der Hand ihres Vaters läuft Deborah im Morgengrauen durch die staubigen und noch ruhigen Straßen. Sie begleitet ihn bei einem seiner Gelegenheitsjobs, er muss die Öfen in der Bäckerei ihres Viertels nach einem Feiertag wieder anheizen. Entlohnt werden die beiden mit Gebäck, das sie stolz, ja fast wie eine Beute, nach Hause tragen.
Zu Hause – das ist das Sandsteinhaus von Deborahs Großeltern. Dort ist sie am liebsten in der Küche, in der sie sich geborgen fühlt. Sie kommt ihr lange Zeit wie „das Zentrum der Welt“ vor, ihrer Welt. Die Frauen der Familie versammeln sich dort, tratschen und sehen der Großmutter beim Kochen zu. Deborahs Mutter ist nicht unter ihnen. Sie hat sich auf- und davongemacht und ihre Tochter noch als Kleinkind der Obsorge der Großeltern überlassen. Deborah besucht eine Art Grundschule, in den Kreisen, in denen sie sich bewegt, ist höhere Bildung ausschließlich Männern vorbehalten. Als sie 17 Jahre alt wird, wählt ihre Familie mithilfe eines Kupplers einen Mann aus, den sie nach einer rund halbjährigen Verlobungszeit auch heiratet. Bis dahin hat sie ihn dreimal zu Gesicht bekommen, ein einziges Mal für nur wenige Momente unter vier Augen.
Deborah lebt in New York. Deborah lebt im 21. Jahrhundert. Deborah ist eine chassidische Satmarerjüdin. Ihre autobiografische Erzählung ist das berührende Dokument einer jungen Frau, die eine ganze Welt hinter sich gelassen, ja mit ihr abgeschlossen hat, weil sie frei sein wollte: „Ich habe keine Vergangenheit, an die ich mich klammern könnte, die vergangenen 23Jahre gehören jemand anderem, jemandem, den ich nicht kenne.“ Bis dorthin gilt es jedoch, einen steinigen Weg zu beschreiten. Das Buch berührt vor allem deshalb so, weil seine Autorin nicht anklagt, sie polarisiert nicht, sondern sie beschreibt, etwa ihre nahezu grenzenlose Naivität, mit der sie als Kind das für uns Unvorstellbare hingenommen hat, ohne es zu ergründen. Erst als der Leidensdruck wächst und sie den restriktiven Normen nicht mehr in jedem Punkt entsprechen kann, reift in ihr über schmerzhafte Jahre hinweg der Entschluss, all dem den Rücken zuzukehren. Koste es, was es wolle. Deborah Feldman hat es beinahe das Leben gekostet.
Sieht man einmal von dem Autobiografischen ab, hat Feldman vor allem ein Buch über Angst geschrieben, etwa die Angst als Movens der Unterdrückung. Nichts ist effektiver, als Angst zu erzeugen, will man eine Gruppe von Menschen einen und dazu anhalten, unter Verquälung ihrer Eigenart unbedingten Gehorsam zu leisten. In Deborahs Umfeld ist es die Angst vor einem neuen Holocaust, von dem man annimmt, dass er als Strafe Gottes für den Ungehorsam seiner Kinder jederzeit wieder über sie hereinbrechen könne. Vorbeugen will man dem durch „sichtbare Zeichen der Frömmigkeit“ (etwa die kahl rasierten Köpfe der Frauen unter Echt- oder Kunsthaarperücken), die die Macht besitzen sollen „zu beeinflussen, wer wir im Inneren sind“, und die zur Abgrenzung gegenüber der Außenwelt dienen. („Ich denke, dass der wichtigste Grund, weshalb Satmarer sich so eigentümlich und auffällig kleiden, darin liegt, dass auf diese Weise sowohl Außenstehende als auch Angehörige an die riesige Kluft erinnert werden, die zwischen unseren beiden Welten liegt. Assimilation, sagt meine Lehrerin immer, war der Grund für den Holocaust.“) Jede Sekte droht, umso überzeugender sie das tut, desto sicherer kann sie sich ihrer Anhängerschaft sein. Die Mechanismen sind überall dieselben, die Bühne ist vielleicht eine andere.
Die einzige Chance auf Freiheit liegt in der Überwindung der Angst. Man muss den Weg ins Nichts wählen, eine Art Todeszone durchschreiten, um in einem neuen Leben anzukommen. Sicher kann man sich nicht sein. Noch bevor sich ihr der neue Weg zeigt, beginnt sich Deborah endgültig von dem alten Leben mit allem, was dazugehört, zu verabschieden, gleichsam so, als wäre sie im Begriff zu sterben. Ihre Beweggründe sind dabei nicht rationaler Natur, sondern emotionaler. Ihr Empfinden über Richtig und Falsch gibt den Ausschlag, unabhängig davon, ob sie dafür eine logische Erklärung hat oder nicht. („Jeden gewagten Sprung, den ich in meinem Leben riskiert habe, kann ich auf ein Gefühl zurückführen, und nicht auf einen rationalen Gedanken.“) Erst als sie auf ihr Empfinden hört, gelingt ihr das scheinbar Unmögliche.
Tröstliches Resümee eines fantastischen Buches: „Wenn du es aller Wahrscheinlichkeit zum Trotz glaubst, wird es wahr.“ ■
Deborah Feldman liest am Montag, dem 18. April, um 19 Uhr in der Wiener Hauptbücherei, Urban-Loritz-Platz 2.
Deborah Feldman
Unorthodox
Autobiografie. Aus dem Amerikanischen von Christian Ruzicska. 320 S., geb., 23,50 (Secession Verlag, Berlin)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2016)