Situationselastischer Umgang mit dem Recht: Notstand auf Vorschuss

MINISTERRAT: PRESSEFOYER
MINISTERRAT: PRESSEFOYERAPA/ROLAND SCHLAGER
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Ordentliches Grenzmanagement vor möglicher Flüchtlingswelle wäre auch ohne Sondergenehmigungen der Bundesregierung möglich. Ein Spiel mit dem Feuer.

Im sprichwörtlich letzten Moment haben SPÖ und ÖVP im Innenausschuss des Parlaments diese Woche für kurze Zeit den Retourgang eingeschaltet. Gnädigerweise gewähren sie dem verschärften Asylgesetz mit eingebetteter Notstandsermächtigung eine Begutachtungsfrist von zehn Tagen. Das macht die Sache auch nicht besser.

Denn abgesehen von der Asylproblematik müssten die Aussagen, die von Regierungsseite zum Notstandsparagrafen in den vergangenen Tagen getätigt wurden, alle Hellhörigen auf den Plan, eigentlich sogar auf die Barrikaden, rufen. Es gebe keinen aktuellen Notstand, erklärte zum Beispiel Verteidigungsminister Hans Peter Doskozil (SPÖ), man benötige ihn nur quasi auf Vorschuss.

Und der Regierungsexperte für alle Asylverschärfungen, Walter Obwexer, sprach im ORF davon, dass es keinen Notstand im eigentlich Sinn gebe. Was wäre dann ein Notstand im uneigentlichen Sinn? Laut Obwexer eine Überlastung des Gesundheitssystems etwa durch einen Flüchtlingsansturm. Oder eine Überbeanspruchung der Polizei etc. Solches kann jederzeit behauptet werden.

Solch situationselastischer Umgang mit Rechtsbestimmungen durch Regierung und Koalitionsparteien macht Angst. Das war im Juli des Vorjahres schon einmal der Fall, als Innenministerin Johanna Mikl-Leitner (ÖVP) begann, von einem Notstand zu faseln. Damit wollte sie ihre Zeltstädte für Flüchtlinge rechtfertigen, die, wie man heute weiß, bereits Teil einer Flüchtlingsabwehrstrategie hätten sein sollen. Diese hatte damals so (noch) nicht funktioniert, weil kein Notstand zu sehen war.

Mikl-Leitner hat aus dem behaupteten Notstand auch nicht die vorgesehenen Konsequenzen gezogen, wie sie im Artikel 18 der Verfassung genau vorgeschrieben sind: Abwehr eines offenkundigen, nicht wiedergutzumachenden Schadens für die Allgemeinheit . . .

Aktuell spricht man breitenwirksamer nun von der „Gefährdung der öffentlichen Ordnung und der inneren Sicherheit“. Das versteht doch jeder. Politisch gesehen heißt das – und hier wird es mit dem Notstand auf Vorrat richtig gruselig: In der Folge einer Notstandsverordnung kann eine Regierung auf die Einhaltung der Gesetze und die Beachtung der Rechtsnormen verzichten, wenn sie damit einen „Notstand“ bekämpfen will.

Jetzt gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder wissen Bundeskanzler Werner Faymann und Co. in ihrer Panik vor dem Asylproblem gar nicht, was sie hier vorhaben. Oder aber sie gehen bewusst das Risiko eines künftigen möglichen Missbrauchs dieser Rechtsauslegung eines „Notstands“ ein. Beides müsste alle Alarmglocken im Land schrillen lassen. Die Erfahrung lehrt nämlich, dass dramatische Begriffe bei allzu häufigem Gebrauch ihre Wirkung verlieren. Abstumpfung als Folge!

Das heißt: Wenn jetzt, da weder Vertreter der Kirche wie Kardinal Schönborn noch Menschenrechtsexperten wie Manfred Nowak noch NGOs irgendwo einen Notstand sehen, dieser heraufbeschworen wird, wird die Schwelle gesenkt; dann kann etwas auch künftig zum Notstand erklärt werden, was im rechtlichen Sinn keiner ist.

Aus Unwissenheit oder Absicht ruft diese Koalitionsregierung Geister, die sie und das Land nicht mehr loswerden könnten. Auch Österreich ist nicht dagegen gefeit, dass nach einem eventuellen Machtwechsel die Notstandsermächtigung in falsche Hände gerät. Und was diese damit anfangen können, lehrt die Geschichte. Was ein Notstand ist, bestimmt dann ein undemokratisches Regime – erst recht, was ein Notstand auf Vorrat sein kann.

Heute schränkt die geplante Notverordnung das Asylrecht ein. Und morgen? Wenn sich die Bevölkerung erst einmal an einen Notstand ohne wirkliche Not gewöhnt hat, wird man ihr viel als solchen verkaufen können. Demokratiepolitische Desensibilisierung, Gefährdung der Demokratie? Schon wieder Alarmismus? Wohl kaum. Es kann schnell gehen, wie man an Europa sieht.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zur Autorin:

Anneliese Rohrer
ist Journalistin in Wien: Reality Check http://diepresse. com/blog/rohrer

("Die Presse", Print-Ausgabe, 16.04.2016)

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