Flüchtlinge: Über die „Via Austria“ nach Italien

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Mehr als 2000 Menschen sind heuer über Österreich illegal nach Italien geflüchtet, viele Asylanträge wurden in anderen EU-Ländern abgelehnt. Die meisten gelangten nach Friaul.

Wien. „Aus Österreich kommen mehr Migranten nach Italien als umgekehrt“, empörte sich Innenminister Angelino Alfano über Pläne Österreichs, wegen befürchteter Massenflüchtlingsströme die Grenze zu Italien dichtzumachen. Dieser Vorwurf war aus Italien in den vergangenen Wochen häufig zu hören. Gemeint ist diesmal nicht der im internationalen Scheinwerferlicht stehende Brenner. Hingewiesen wird auf Menschen, die weiter südlich, über den Übergang bei Tarvis, illegal nach Italien gelangen.

So sind laut Bozener Polizei von Jänner bis Mitte April 687 Personen aufgegriffen worden, die über den Brenner illegal von Österreich nach Italien wollten (200 wurden zurückgeschickt) – umgekehrt waren es laut österreichischen Angaben mehrere Tausend. Über den Grenzübergang bei Tarvis hingegen gelangten laut Informationen der „Presse“ in den ersten drei Monaten 2016 mehr als 1700 Menschen illegal über Österreich nach Italien. Die meisten reisten offenbar in Zügen, die aus Wien kamen. Etwa 400 Flüchtlinge wurden zurückgeschickt, weil sie in Österreich einen Asylantrag gestellt hatten oder ihnen nachgewiesen werden konnte, dass ihre Reise dort begonnen hat. Laut EU-Regeln ist jener Staat für die Flüchtlinge zuständig, in denen sie sich nachweislich als Erstes aufgehalten haben oder registriert wurden.

„Italien soll Grenze schließen“

Der Großteil dieser Menschen stamme aus Afghanistan, Bangladesch oder Pakistan, heißt es aus italienischen Polizeikreisen. Sie seien über die Balkanroute eingereist, als diese noch nicht abgeriegelt war – und irrten jetzt in Österreich herum. Der Asylantrag von einigen sei im Norden (Deutschland, Österreich oder Niederlande) abgelehnt worden. Für Italiens überlastete Bürokratie sei es jedoch oft nicht möglich, sie in nicht angrenzende Länder zurückzuschicken. Viele Flüchtlinge tauchen unter.

Doch auch aus einem anderen Grund suchten diese Menschen jetzt ausgerechnet im ärmeren Italien Zuflucht, weiß Renato Carlantoni, Bürgermeister des Grenzstädtchens Tarvis – des ersten Hafens für die meisten dieser Migranten. „Die Bearbeitung eines Asylantrags in Italien kann mehrere Jahre dauern. In dieser Zeit bekommen die Menschen ein Aufenthaltsrecht“, sagt er der „Presse“. Carlantoni kann die Zahl der Ankünfte aus Österreich bestätigen. Er erwähnt explizit 700 Minderjährige, die seit Jänner über die Grenze gekommen sind und nun in Tarvis betreut werden.

Alarmiert ist er aber vor allem über Berichte, dass Österreich bald auch hier die Grenze dichtzumachen plant: Sollten aufgrund der Schließung der Balkanroute tatsächlich wieder mehr Menschen über das Mittelmeer und die Adria nach Italien gelangen und dann weiter nach Norden fliehen wollen, hat Wien „strenge Grenzkontrollen“ angekündigt. Nach Informationen Carlantonis laufen die Vorbereitungen auf Hochtouren: So werde auf der österreichischen Seite, in Arnoldstein, bereits ein Gebäude für die Registrierung von Flüchtlingen errichtet. Auch von einem Zaun sei die Rede. Erste Kontrollen sollen bereits Mitte Mai beginnen.

„Tarvis droht, zu einem riesigen Flüchtlingslager zu werden“, befürchtet der Bürgermeister. Italien stellt sich offenbar darauf ein: Rom hat von Tarvis gefordert, eine leer stehende Kaserne zu einem Flüchtlingslager umzubauen. „Wir hatten schon ein lukratives Angebot von einem privaten Käufer, der daraus ein Hotel machen wollte. Wir hätten das Geld gebraucht“, klagt er.

5000 Flüchtlinge aus Italien

Aus Wien gibt es jedenfalls wenig Verständnis für die Argumente Italiens. Innenministeriumssprecher Karl-Heinz Grundböck bestätigt der „Presse“, dass die Regierung über die Flüchtlingszahlen des Grenzübergangs bei Tarvis informiert wurde. „Aber wir stellen die Zahlen infrage. Nicht alle Aufgriffe stammen aus Österreich, viele dieser Flüchtlinge reisten womöglich über Slowenien ein.“ Schon gar nicht lässt er die Behauptung gelten, dass die Anzahl der aus Österreich stammenden Flüchtlinge höher sei als umgekehrt: „Seit Jahresbeginn sind 5000 illegale Flüchtlinge aus Italien nach Österreich gekommen.“

Dabei betont er: „Es geht uns nicht um gegenseitiges Aufrechnen.“ Österreich bereite sich nur darauf vor, dass bald Tausende von Menschen über Italien ins Land gelangen könnten. „Es geht dann nicht mehr um vierstellige Zahlen, sondern um sechsstellige“, sagt er. Es liege an Rom, dies zu verhindern: „Italien muss seinen europäischen Verpflichtungen nachkommen: Flüchtlinge registrieren und die Außengrenzen schützen.“

Bürgermeister Carlantoni weist indes darauf hin, dass Flüchtlinge auch im Fall einer Grenzschließung Österreichs weiter nach Italien gelangen könnten. Deshalb fordert er, dass dann auch Rom die Grenze kontrollieren müsse: „Das wäre zwar eine weitere Niederlage für Europa. Aber was haben wir für Alternativen?“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2016)

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