Tschernobyl: Die Übriggebliebenen am Rand der Todeszone

Im Vordergrund die verlassene Stadt Prypjat, im Hintergrund der Unglücksreaktor von Tschernobyl.
Im Vordergrund die verlassene Stadt Prypjat, im Hintergrund der Unglücksreaktor von Tschernobyl.(c) ORF
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In den vor 30 Jahren evakuierten Dörfern um Tschernobyl leben die letzten Rücksiedler von der Hoffnung auf Zuzügler aus der Stadt. Einige sehen darin eine Chance.

Kostas Sedledzkis zieht an seiner Zigarette und zeigt nach Süden. „Wenn das Wetter gut ist, sieht man von hier den Unglücksreaktor von Tschernobyl“, behauptet er. Der Pensionist führt die Besucher durch seine radioaktive Wahlheimat. Er steht dort, wo einst das Zentrum des Dorfes Lenin war. Ausgerechnet ein Kreuz markiert heute den Ort rund 35 Kilometer nördlich des 1986 explodierten AKWs Tschernobyl. Die Kolchose, alle Häuser und selbst der lokal berühmte Kulturklub von Lenin sind heute abgetragen.

Auf der Landkarte ist Lenin als „unbewohnt“ markiert, so wie Hunderte verstrahlte, im Zuge der Reaktorkatastrophe vom 26. April 1986 vollständig evakuierte Dörfer in Weißrussland. Auf dem Weg zum wenige Kilometer entfernten Nachbarort Hubarewitschi sind die Narben der teils vergrabenen, teils abtransportierten Häuser sichtbar. Alles soll schön und ordentlich aussehen im Reich des weißrussischen Autokraten Aleksander Lukaschenko. Und so werden seit drei Jahren im ganzen Land alle alten, unbewohnten Häuser abgetragen. Wenige Meter entfernt sprießt wieder junges Getreide, wartet neuen staatlichen Großfarmen einverleibtes Weideland auf die Kühe. Dabei ist die Gegend immer noch radioaktiv verseucht.

Kostas Sedledzkis kümmert das nicht weiter. Wie die meisten Bewohner des Tschernobyl-Zonenrandes verniedlicht er die Gefahren der radioaktiven Strahlung. In seinem Garten pflanze er Kartoffeln, Lauch und Rote Beete an. Das alles gedeihe blendend und schmecke gut, sagt er. Er erweist sich damit als guter Bewohner von Lukaschenkos Weißrussland. Seit über zehn Jahren bemüht sich nämlich die Regierung in Minsk, die Reaktorkatastrophe vergessen zu machen. Weißrussische Agronomen wollen Methoden entwickelt haben, die schädliche Radionukleide in der Nahrungskette durch ein Umsatteln von Milch- auf Fleischproduktion zu minimieren. „Normalisierung“ heißt diese Politik.

Geduldet von den Behörden. Während das einstige sozialistische Musterdorf Lenin heute in der in Weißrussland offiziell als „Radioaktivitäts-Okölogisches Staatsreservat“ bezeichneten rund 30 Kilometer breiten Todeszone rund um Tschernobyl liegt und deshalb nicht mehr bewohnt werden darf, werden die paar wenigen Einwohner in Lenins drei Nachbardörfern (Hubarowitschi, Wysokoje und Rudakow) von den Behörden geduldet. Das Leben wird ihnen aber nicht einfach gemacht. Noch gibt es zwar Elektrizität, aber keine Gasversorgung, kein fließendes Wasser, keine Kanalisation und keine öffentlichen Verkehrsmittel. Waren auf der Hinfahrt am Waldrand noch überall die „Achtung, Radioaktivität!“-Tafeln zu sehen, sieht Hubarowitschi mit seinen sechs bunten Holzhäusern heute aus wie ein idyllisches Bauerndörfchen.

Auch Maria Daschuk bestellt dort unbeeindruckt ihren eigenen Gemüsegarten. Sie hat sich in der nahen Bezirkshauptstadt Choiniki Zwiebelsetzlinge besorgt. „Die Radioaktivität ist mir wohl in die Beine gefahren“, klagt die 85-Jährige und setzt sich auf eine Bank in den Schatten. Während die Rentnerin erzählt, lockert ihre aus der nahen ukrainischen Stadt Slawutitsch angereiste jüngere Schwester das kleine Zwiebelfeld. Alle hier hätten Hüft- und Kniebeschwerden, sonst spüre niemand die gesundheitsgefährdende Strahlung, erzählt Daschuk, die sich zur Selbstversorgung über ein Dutzend Hühner hält. Zwei Männer und drei Frauen leben noch in dem Ort, der vor 1986 rund 500 Einwohner zählte.

Zwölf Jahre ist es her, seit Daschuk ihr Geburtshaus am Rand von Lenin verlassen und ins Dorfzentrum von Hubarewitschi umgezogen ist. Alle ihre Nachbarn haben sich sofort nach der Reaktorkatastrophe evakuieren lassen. Als auch die letzten leer stehenden Häuser abgetragen wurden, sei ein Wunder geschehen. Ein abgesägter Baumast habe vor drei Jahren plötzlich zu bluten begonnen, am Stumpf sei das Gesicht der Muttergottes erschienen. „Meine Nachbarin hat es als Erstes gesehen“, sagt Maria Daschuk mit einer gehörigen Portion Skepsis.

Sedladzkis ist sich da schon etwas sicherer, dass der liebe Gott der verschworenen 30-Seelen-Gemeinschaft der drei noch bewohnten Nachbardörfer von Lenin ein Zeichen senden wollte. „Im Sommer ziehen bereits Pilger aus Minsk zu dem Wunderbaum“, sagt er stolz. Auch sie bekommen eine „normalisierte“ Landschaft vorgesetzt. Sedladzkis selbst wohnt ein Dorf weiter im Osten, in Wysokoje. Hier halten sich zwei Schwestern zusammen ein Schwein, obwohl beide bereits weit über neunzig sind. Ihr hohes Alter wird in den Gesprächen immer wieder als Beweis für die Unschädlichkeit der Radioaktivität angeführt. „Wer weggezogen ist, ist dagegen gestorben oder hat sich erhängt“, erzählt Sedledzkis. Der mit 63 Jahren für hiesige Verhältnisse noch junge Mann ist so etwas wie die gute Seele des Ortes. Mit seinen 15 Bewohnern ist das einstige 400-Seelen-Dorf heute die größte Tschernobyl-Siedlung am weißrussischen 30-Kilometer-Todeszonenrand. Der ehemalige Matrose der sowjetischen Kriegsmarine will vor 21 Jahren aus Sankt Petersburg hierhin gezogen sein. Als Erste sei seine Schwester in diese Gegend gekommen, die Familie habe weißrussische Wurzeln, begründet er.

Das Leben ist hart. Weitere Nachbarn trudeln ein, als Letzter stößt der erst 40-jährige Andrei dazu, und er gibt unumwunden zu, aus der Evakuierung auch einen materiellen Gewinn gezogen zu haben. Seine Familie gehört offenbar zu jenen, die zuerst die Prämie für das 1986 zurückgelassene Haus kassiert und danach ihre erhaltene Ersatzwohnung verkauft haben. Zum Lachen ist Andrei dennoch nicht zumute. Wegen Tuberkulose kann der ausgebildete Veterinär seinen Beruf nicht ausüben, die betagte Mutter liegt im Spital. „Das Leben ist sehr hart hier.“

Nur zweimal in der Woche kommt für 15 Minuten ein Autobusladen in den drei Dörfern vorbei. Wer keine ins nahe Umland evakuierten Verwandten hat, ist auf den Garten angewiesen. Grigori Dehun hat sich in Wysokoje wohl am besten von allen auf die Selbstversorgung spezialisiert. Neben einem großen Kartoffelacker baut der einstige Agrarfachschuldirektor abseits des Dorfzentrums auch Futterweizen für seine vier Schweine an. Mit dem Rüden Bim sitzt der 75-Jährige vor seinem Haus und bewacht seine 25 Hühner, damit kein Falke mehr zuschlägt, wie erst vergangene Woche. „Die Welt da draußen ist verrückt, ich bin überzeugt, dass die Städter bald aufgezehrt vom Stress wieder zu uns hier aufs Land hinausziehen.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.04.2016)

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