Mit Orwell in ein islamistisches „2084“

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ALGERIA-FRANCE-LITERATURE-SANSAL(c) FAROUK BATICHE / AFP / picturede (FAROUK BATICHE)
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Big Brother als Gottesstaat: Der Algerier Boualem Sansal schildert im Roman „2084“ eine totale religiöse Diktatur. Auch ägyptische Autoren entdecken die westlich geprägte Dystopie – und nutzen sie für Gesellschaftskritik.

Schlaft ruhig, liebe Leute, nichts von alledem ist wahr, und der Rest ist unter Kontrolle“: Geflissentlich betont der algerische Schriftsteller Boualem Sansal am Beginn seines Romans „2084“, dass die darin geschilderte Welt genauso wenig existiere wie jene von Orwells Roman „1984“; und natürlich meint er das Gegenteil: Seine Schreckensvision des Gottesstaates Abistan ist ein Albtraum, geschmiedet aus Erfahrungen mit dem und Ängsten vor dem Islamismus, den der nahe Algier lebende Sansal seit den Neunzigerjahren hautnah miterlebte.
In Frankreich 2015 in einer Startauflage von 150.000 Exemplaren erschienen, war „2084“ ein Favorit für fast alle wichtigen Buchpreise. Am 1. Mai erscheint es nun im Merlin-Verlag auf Deutsch und signalisiert einen neuen Trend im Genre der Dystopie: Düstere Zukunftsvisionen, die nicht mehr in der Angst vor totalitären Regimen im Westen wurzeln, auch nicht in der Sorge um technologisch ermöglichte Totalüberwachung oder eine durch den Klimawandel zerstörte Welt, sondern in der Angst vor dem islamischen Extremismus.
2015 beschrieb Michel Houellebecq in „Unterwerfung“ ein islamistisches Frankreich des Jahres 2022. Im selben Jahr hat Boualem Sansal seinen Roman veröffentlicht. 2084 ist ein mythisches Datum. Seit diesem ehrwürdigen Gründungsjahr der Neuen Zeit herrscht ewige Gegenwart, Kalender sind abgeschafft, Geschichte auf ein mythisches Nebelgespinst reduziert. Nur so viel weiß man: dass es einen Großen Heiligen Krieg gab, in dem die alte Welt besiegt, ihre Sprache und ihre Gegenstände entsorgt wurden.

Das wandernde Haus des Propheten

Es scheint nun nur noch das „Land der Gläubigen“ mit dem Namen Abistan zu geben, benannt nach dem Propheten Abi, dem Gesandten des Gottes Yölah. Die Menschen leben in größter Armut (außer den unsichtbar Herrschenden der „gerechten Bruderschaft“), aber restlos gläubig; nichts wünschen sie sich mehr als die Zulassung zu einer Pilgerfahrt – die einzige Art Reise, die noch existiert – oder den Märtyrertod. Rituale sorgen ebenfalls für Zufriedenheit: So wird das Geburtshaus des Propheten Abi regelmäßig von einer Provinz in die andere verpflanzt, und die Teilnahme an den Heiligen Hinrichtungen in den grässlichsten Details per Kamera allen Menschen ermöglicht. Aber wie in Orwells „1984“ ist die menschliche Freiheit nicht immer restlos unterdrückbar. Sie gräbt sich durch die Gefühle und Gedanken des lungenkranken Ati, der in einem Sanatorium in der Wüste lebt und immer mehr zu zweifeln beginnt.

Sansals Psychogramm eines wachsenden religiösen Zweifels ist lesenswert, ebenso das Bestiarium religiösen (islamischen) Wahnsinns der Gegenwart und Vergangenheit, das er vor dem Leser ausbreitet. Aber kann man „2084“ eine Dystopie nennen? Der Roman zeigt, dass dieses Genre westlicher Prägung eben nicht so einfach auf das Phänomen des Islamismus anwendbar ist. Er spielt in einem zeitlos wirkenden mythischen Raum, sein allegorischer Stil hat mit dem Realismus westlicher Science Fiction wenig zu tun, und die Anspielungen auf Orwell wirken aufgesetzt, fast wie eine Anbiederung an westliche Vorlieben. Dieser Eindruck ist auch nicht verwunderlich. Orwell schrieb vor dem Hintergrund spezifischer totalitärer Systeme in Europa; ein Regime wie der IS ist zu verschieden davon, als dass es sich mit „1984“ deuten ließe. Orwell mahnte einmal: „Wenn Sie nicht wissen, was der Faschismus ist, wie wollen Sie ihn dann bekämpfen?“ Man könnte den Satz in diesem Zusammenhang aktualisieren: Wenn Sie nicht wissen, was der Islamismus ist, wie wollen Sie ihn dann bekämpfen?
Dass Sansal sich beim Versuch einer islamismuskritischen Dystopie auf einen westlichen Klassiker stützt und nicht etwa auf ein Werk aus dem arabischsprachigen Raum, ist ebenfalls nicht verwunderlich. Dystopische Science Fiction habe im arabischen Raum kaum Tradition, sagt der an der Wiener Orientalistik lehrende Literaturwissenschaftler Abdelfattah Salama der „Presse“. Und wenn, dann spiele die Technik, anders als in der westlichen Science Fiction, keine Rolle.

Düstere Visionen von Ägyptens Zukunft

Allerdings gibt es Salama zufolge eine Trendwende: In den letzten Jahren erscheinen vor allem in Ägypten zunehmend Romane, die in einer düsteren nahen Zukunft spielen, wie es bei Houellebecqs Roman „Unterwerfung“ der Fall ist – als Mittel für aktuelle Gesellschaftskritik. „Es geht in diesen Romanen immer um diktatorische Regime, Unterdrückung durch die Polizei und Verbot der Meinungsfreiheit“, erzählt Salama. Und um Armut. Zum Beispiel im 2008 erschienenen erfolgreichen Roman „Utopia“ des beliebtesten arabischsprachigen Science-Fiction-Autors Ahmed Kaled Taufiq. Er spielt in einem Ägypten 2023, in dem die Reichen sich in eigenen Arealen („Utopia“) vom bitterarmen Rest-Ägypten abschotten. Das Buch strotzt von Anspielungen auf dystopische Hollywood-Filme und Bücher wie Huxleys „Schöne neue Welt“. Dass der Autor als Motto ein Brecht-Zitat verwendet, kann da auch nicht mehr verwundern.
„Es gibt kaum dystopische Romane in der arabischen Welt“, bestätigt auch der ägyptische, in Neuseeland lebende Autor Hazem Ilmi (ein Pseudonym) der „Presse“. Auch er hat einen islamismuskritischen Science-Fiction-Roman verfasst. „Die 33. Hochzeit der Donia Nour“, soeben auf Deutsch im Blumenbar Verlag erschienen, erzählt unterhaltsam von einer perfekten islamistischen Diktatur 2.0 mit Neo-Sharia und Shariatainment. Hauptfigur ist eine junge Frau, die im Ministerium für Erlösungshilfe arbeitet und sich mittels 24-Stunden-Hochzeiten ihre Flucht zu finanzieren versucht. Der Roman ist ebenfalls mit westlichen Zitaten gespickt. Im Jahr 2084 spielt er zwar nicht – aber: 2048.

Zur Person

Boualem Sansal, geboren 1949, lebt in Algerien und schreibt auf Französisch. Er ist Muslim, aber als scharfer Islamismus-Kritiker bekannt, und sieht Gewalt und Extremismus als im Kern des Islam angelegt. Sein Roman „Der Schwur der Barbaren“ machte ihn bekannt, 2011 erhielt er den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. Für seinen Roman „2084“ bekam er in Frankreich 2015 den Grand Prix du Roman.

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