Wenn nicht Ethik, sondern Pragmatik als Richtschnur dient

Kühles Denken, was angesichts der drohenden Völkerwanderung am besten zu tun wäre, hat bei Moralisten und Utopisten einen schlechten Stand.

Vor fast 100 Jahren formulierte Max Weber in einem Vortrag über „Politik als Beruf“: „Wir müssen uns klarmachen, dass alles ethisch orientierte Handeln unter zwei voneinander grundverschiedenen, unaustragbar gegensätzlichen Maximen stehen kann: Es kann ,gesinnungsethisch‘ oder ,verantwortungsethisch‘ orientiert sein. Nicht dass Gesinnungsethik mit Verantwortungslosigkeit und Verantwortungsethik mit Gesinnungslosigkeit identisch wäre. Davon ist natürlich keine Rede. Aber es ist ein abgrundtiefer Gegensatz, ob man unter der gesinnungsethischen Maxime handelt – religiös geredet: ,Der Christ tut recht und stellt den Erfolg Gott anheim‘ – oder unter der verantwortungsethischen: dass man für die voraussehbaren Folgen seines Handelns aufzukommen hat.“

Seither wird in der politischen Debatte zwischen Gesinnungsethik und Verantwortungsethik unterschieden. Mal mehr, mal weniger; in der gegenwärtigen Zeit der Krisen wohl aber massiv.

Am lautesten tönt diese Debatte angesichts der Vorzeichen einer drohenden Völkerwanderung, des Eindringens von Heerscharen, die keine Ahnung von europäischer Aufklärung, von liberalem Denken, von den tragenden Säulen einer hoch entwickelten Kultur haben, in ein Europa, das in seinem postmodernen Ennui von sich aus die Tradition dieser Werte schleifen ließ. Nun stehen die Utopisten der Gesinnungsethik den kühlen Realisten der Verantwortungsethik gegenüber.

Die einen sind vom Glauben getragen, es dürfe für Herankommende keine Grenzen geben, es sei ihrer „Kultur“ genannten Lebensführung, selbst wenn diese über Atavismen nicht hinauskommt, mit Respekt zu begegnen, es sei ihren Bedürfnissen dieselbe Aufmerksamkeit wie den Nöten der eigenen Bevölkerung zu widmen. Nur dieses Verhalten ist – in den Augen der Vertreter dieser Ansicht, die so fromm wie Caritas-Präsident Michael Landau sind – gottgefällig oder – in den Augen der Vertreter dieser Ansicht, die so sehr an die Geschichte glauben wie die Wiener Stadträtin Sonja Wehsely – dem Wohlergehen der Menschheit gerecht.

Die anderen, die von Max Weber Verantwortungsethiker Genannten, tragen den Utopisten zufolge diese Bezeichnung zu Unrecht. Denn ihnen geht es nicht um Ethik, weil sie bloß die Interessen der ihnen Anvertrauten vertreten. Diese Kritik trifft den Kern. Verantwortungsethik ist in der Tat ein schlecht gewähltes Wort.

Denn wer sein Denken, Reden und Handeln danach ausrichtet, was dem zugleich liberal wie auch rechtssicher verfassten Staat und seinen Bürgern auf lange Sicht nützt, hat nicht das Gute, bloß das Zweckmäßige im Sinn.

Nicht Ethik, sondern Pragmatik ist seine Richtschnur. So erwägt er kühl, wie viel Zuwanderung ein Staat auf lange Sicht verkraften kann, welche Investitionen erfolgen müssen, damit die Aufgenommenen innerhalb weniger Jahre vollwertig in die bestehende Gesellschaft eingegliedert werden, und ob sich in absehbarer Zeit durch deren Beitrag am Bruttonationalprodukt diese Investitionen in einen Gewinn für alle verwandeln. Nicht von moralisch Gutem ist hier die Rede, sondern von gesellschaftlich Nützlichem.

Zugegeben, dies sind kalte Rechnungen. Aber schon Nietzsche wusste: Wer denken will, muss gut frieren können. Guter Geist sei trocken, sagt Paul Valéry.

Ein solches Denken sei menschenverachtend (der heutzutage trendigste Begriff, um sein Gegenüber vor dem Publikum bühnenreif schachmatt setzen zu können, ohne auch nur ein einziges Argument formulieren zu müssen), kontern die Utopisten. Auch das Wort Gesinnungsethik, zu der sie sich bekennen, ist nicht treffend gewählt.

Denn das Gute, auf das sich die Gesinnungsethiker berufen, ist ihnen bloß Mittel zum Zweck der Vernichtung derer, die ihnen nicht zu folgen bereit sind. Savonarola ist zum Beispiel ein Gesinnungsethiker, aber auch Stasi-Minister Erich Mielke, dessen Wort „Ich liebe euch alle!“ aus tiefst erschüttertem Herzen gerufen wurde.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Zum Autor:

Rudolf Taschner
ist Mathematiker

an der TU Wien und betreibt mit seiner Frau und Kollegen
der TU Wien das Projekt math.space im Wiener
Museumsquartier.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.04.2016)

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