Der ewige Kulturkampf ist nicht zu Ende

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Orientierung. Die Türkei sucht nach wie vor ihre Identität zwischen Ost und West. Staatschef Erdogan hat die Wende zurück zu islamischen Werten eingeläutet.

Der türkische Pianist und Komponist Fazil Say feiert Erfolge auf den Bühnen der ganzen Welt – doch zu Hause ist er vielen suspekt. Ein tiefer Graben trennt den westlich orientierten Musiker und Intellektuellen von der islamisch-konservativen Regierung in Ankara und deren Anhängern. Über den heutigen Präsidenten, Recep Tayyip Erdogan, sagte Say einmal, dieser habe „in seinem ganzen Leben noch kein Konzert und keine Oper besucht“. Damit hat Say vermutlich sogar recht, wenn er Aufführungen westlich-klassischer Musik meint.

Say betont die westliche Ausrichtung des Landes, die zu den Prioritäten von Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk gehörte – die von Erdogan und seinen Wählern aber günstigstenfalls als Beschäftigungstherapie für eine abgehalfterte Elite und schlimmstenfalls als Unterdrückung frommer Muslime gesehen wird. Der Gegensatz zwischen Say und Erdogan steht für einen Kulturkampf, der die Türkei prägt und der Ausdruck ist für die Suche des Landes nach einer eigenen Identität.

Um die herzliche gegenseitige Abneigung zwischen Türken wie Say und Erdogan zu verstehen, muss man einen Blick auf die Entstehungsgeschichte der 1923 gegründeten Republik werfen, die auf den Trümmern des untergegangenen Osmanischen Reiches errichtet wurde. Atatürk war ein entschiedener Gegner des Islam, den er für eine reaktionäre Kraft hielt. Im neuen Staat sollte die Religion keine Rolle mehr spielen. Der Westen war das neue Vorbild.

Um das Ideal bei den Bürgern durchzusetzen, pflegte Atatürk einen betont westlichen Lebensstil. In einer Art gesamtgesellschaftlicher Rosskur ließ er Bälle organisieren, bei denen er mit – natürlich unverschleierten – Frauen tanzte: ein Schock für eine islamisch geprägte, konservative Gesellschaft. Er trank Alkohol. Er gab den Frauen das Wahlrecht. Er verbot den osmanischen Fez und zeigte sich im Panama-Hut. Er schaffte die arabische Schrift ab und legte den freien Tag in der Woche vom islamischen Freitag auf den christlich-westlichen Sonntag.

Die als Kemalisten bekannten Atatürk-Anhänger eiferten in den anschließenden Jahrzehnten ihrem Idol nach und verfestigten den Kemalismus zu einer Staatsideologie, die fromme Türken vom Zugang zur Macht ausschloss, obwohl diese die Mehrheit der Wähler stellten. In einem zu mehr als 99 Prozent muslimischen Land durften Frauen im Kopftuch weder studieren noch als Lehrerinnen oder Anwältinnen arbeiten. Als letztes Mittel zur Wahrung der Vorherrschaft der Säkularisten dienten Staatsstreiche der Militärs, die zwischen 1960 und 1997 vier gewählte Regierungen von der Macht verdrängten.

Erst der Wahlsieg von Erdogans islamisch-konservativer Partei AKP im November 2002 leitete die Wende ein. Die von den Kemalisten als ungehobelt und ungebildet verachteten Kleinbürger aus Anatolien waren plötzlich an der Regierung und bescherten dem Land einen noch nie da gewesenen Wirtschaftsboom. Mit den Jahren vollzog sich ein Elitenwechsel: Frauen mit islamischen Kopftüchern fuhren plötzlich in teuren Autos vor exklusiven Einkaufszentren vor, in denen verschleierte Türkinnen ein paar Jahre zuvor höchstens als Putzfrauen Zutritt erhalten hätten.

Rückkehr zur Geschlechtertrennung

Zum Entsetzen von Say und anderen Kemalisten gingen die Erdogan-Leute daran, ihre eigenen Wertvorstellungen im Alltag des Landes durchzusetzen. Alkoholgesetze wurden verschärft, angebliche Beleidigungen des Islam strafrechtlich verfolgt, Bikiniwerbungen abgehängt. Das neue islamisch geprägte Bürgertum macht Urlaub in Hotels, die getrennte Pools für Frauen und Männer anbieten. Politiker – insbesondere die in der AKP – tun gut daran, sich beim Gebet in der Moschee sehen zu lassen. Auf einem Hügel über dem Bosporus in Istanbul lässt Erdogan derzeit eine riesige Moschee bauen, die nach seinen eigenen Worten aus der ganzen Stadt zu sehen sein soll: ein steinernes Symbol für die neue Vorherrschaft der frommen Türken.

Inzwischen geht Erdogan noch weiter. Nachdem seine AKP das Land in den ersten Jahren ihrer Regierungszeit mit demokratischen Reformen näher an die EU brachte, steht sie dem von Atatürk als Vorbild betrachteten säkularen Europa heute skeptisch gegenüber. Stattdessen sieht Erdogan die Türkei stark genug, um ihren eigenen Weg zu gehen. Statt einer Synthese aus Ost und West wird eine eigene türkische Version eines islamisch geprägten Staates angestrebt. Die „Neue Türkei“, wie Erdogan sie nennt, versteht sich als mittelöstliche Regionalmacht auf der Basis des Islam. Dieser Neuentwurf schreckt urbane Säkularisten wie Say ab. Die Polarisierung zwischen Erdogan-Anhängern und -Gegnern wird immer stärker, weil sich Erdogan als Vertreter der fromm-konservativen Mehrheit versteht und für weniger gläubige Städter und Intellektuelle nichts übrig hat. Viele von ihnen fühlen sich ausgegrenzt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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