Religion. Heute leben etwa 100.000 Christen in der Türkei, erstmals dürfen sie wieder Kirchen bauen. Die EU drängt auf Gleichberechtigung.
Ankara/Wien. Das Gebiet der heutigen Türkei beherbergte historische Zentren des Christentums. Hier wirkte Apostel Paulus, hier fanden insgesamt sieben ökumenische Konzilien statt. Im vierten Jahrhundert wurde das Christentum vom damaligen Herrscher Theodosius I. sogar als Staatsreligion ausgerufen. Doch mittlerweile sind die Christen in der Türkei auf eine kleine Minderheit von rund 100.000 zusammengeschrumpft.
Die dunklen Episoden der Verdrängung liegen lange zurück. Ab dem 15. Jahrhundert, als das osmanische Reich die Gebiete der heutigen Türkei beherrschte, wurden Christen nach und nach zurückgedrängt. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die restlichen Anhänger der Religion vertrieben, verfolgt und ermordet.
Kurz bevor der neu gegründete Staat im Vertrag von Lausanne den Anhängern von zwei christlichen Konfessionen und Juden Minderheitenrechte zusprach, kam es zu einem riesigen Bevölkerungsaustausch, bei dem 1,2 Millionen griechisch-orthodoxe Christen nach Griechenland und rund eine halbe Million moslemische Türken aus Griechenland in die Türkei vertrieben wurden.
Erst in den vergangenen Jahrzehnten gab es für die verbliebene christliche Minderheit auch positive Entwicklungen. Mit Unterstützung der EU wurden 2011 konfiszierte Immobilien und Sakralbauten zurückgegeben. Im Rahmen der Beitrittsverhandlungen wurde mehrfach das Ende der Diskriminierung der christlichen Minderheit gefordert. Die türkische Regierung sagte dies mehrfach zu. Dennoch kam es nach wie vor zu gewaltsamen Übergriffen gegen Christen. Ankara wehrte sich auch gegen eine Aufarbeitung des Völkermords an armenischen Christen zu Beginn des 20. Jahrhunderts.
Die freie Religionswahl ist in der Türkei zwar verfassungsrechtlich verankert, Christen werden dennoch bei der Ausübung ihrer Religion benachteiligt. Problematisch bleibt etwa, dass die Kirchen selbst keine Nachwuchspriester ausbilden dürfen. 2015 wurde erstmals wieder ein Neubau einer christlichen Kirche genehmigt. Die christlich-syrische Minderheit darf im Istanbuler Stadtteil Yesilköy auf städtischem Boden ein Gotteshaus errichten. Es ist der erste genehmigte Neubau seit 90 Jahren. Die Baukosten werden von einer Stiftung getragen. (wb)
("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)