Türkei und Europa: Auf Gedeih und Verderb aneinander gebunden

Petra Winkler/Gregor Käfer
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Wirtschaft. Europa ist für die Türkei ein unverzichtbarer Handelspartner, und auch umgekehrt profitieren EU-Staaten von diesem jungen Markt mit nach wie vor hohen Wachstumsraten.

Kühlschränke, Fernseher, Autos – wenn sich Verbraucher in Europa zu neuen Anschaffungen entschließen, kaufen sie häufig Produkte aus der Türkei. Als das „China Europas“ wird das Land zwischen Ost und West bezeichnet, das sich im vergangenen Jahrzehnt zu einem der wichtigsten Lieferanten für die 28 EU-Länder entwickelt hat. Für die Türkei ist die EU ein unverzichtbarer Handelspartner, der rund 44 Prozent aller Exporte des Landes abnimmt.

Umgekehrt liegt die Türkei in der Liste der größten Handelspartner der EU auf dem fünften Rang. Diverse politische Krisen zwischen Ankara und Brüssel in den vergangenen Jahren haben den starken Wirtschaftsbeziehungen nichts anhaben können. Neue Unwägbarkeiten könnten das harmonische Zusammenspiel jedoch stören.

Im vergangenen Jahr beliefen sich die türkischen Ausfuhren in die EU auf 64 Milliarden US-Dollar – bei Gesamtexporten von 144 Milliarden ist das ein gehöriger Anteil. Unter den weltweit zehn wichtigsten Abnehmern türkischer Exporte sind fünf EU-Länder, angeführt von Deutschland. Auch das Handelsvolumen zwischen der Türkei und Österreich hat sich seit dem Jahr 1990 auf rund 2,5 Milliarden Euro vervierfacht. Österreich liefert vor allem Maschinen in die Türkei, während in umgekehrter Richtung hauptsächlich Textilien und Autos geliefert werden.

Werkbank für Autohersteller

Die Autoindustrie spielt auch bei den Wirtschaftsbeziehungen zwischen der Türkei und der EU insgesamt eine Schlüsselrolle. Der Export von Kraftfahrzeugen macht rund zwölf Prozent der türkischen Gesamtexporte aus. Große Marken wie Toyota, Renault und Fiat lassen in der Türkei für den europäischen Markt produzieren und profitieren dabei von einem relativ niedrigen Lohnniveau. Haushaltsgeräte sind ein weiterer wichtiger Faktor: Türkische Gerätehersteller exportieren rund 75 Prozent ihrer Produktion.

Wichtig ist ebenfalls die Textilindustrie, die lange Zeit das Rückgrat der türkischen Exportwirtschaft gebildet hat. Längst haben sich türkische Firmen auf dem Markt der EU-Länder etabliert und sich auch europäische Unternehmen zugelegt. So gehört die deutsche Traditionsmarke Grundig mittlerweile zum türkischen Elektronikhersteller Beko. Die belgische Schokoladenmarke Godiva ging im Jahr 2007 für 850 Millionen Dollar an die türkische Ülker-Gruppe. Seit mehr als 20 Jahren sind Europäer und Türken durch eine Zollunion verbunden, die weiter ausgebaut werden soll.

Für europäische Unternehmen ist die Türkei ein interessanter Absatzmarkt, auch wenn die Boomjahre mit Wachstumsraten von zeitweise mehr als zehn Prozent erst einmal vorbei sind. Mit vier Prozent Wachstum im vergangenen Jahr, das nicht zuletzt von einer starken Inlandsnachfrage und vom Konsum getragen wurde, liegt die Türkei immer noch weit vor den EU-Ländern. Milliardenschwere Infrastrukturprojekte wie der geplante neue Großflughafen in Istanbul bieten ebenfalls Chancen für europäische Firmen.

Auch die junge Bevölkerung – das Durchschnittsalter der Türken liegt unter 30 Jahren – und der große Nachholbedarf eines Landes, das lang zu den armen Gegenden am Rand Europas gezählt hat, ziehen Unternehmen von Microsoft bis Haribo an. Zudem bietet sich die Türkei wegen ihrer geografischen Lage und ihrer kulturellen Mischung aus europäischen und orientalischen Facetten als Sprungbrett für europäische Firmen in den arabischen oder zentralasiatischen Raum an. Mehrere Tausend Firmen aus der EU unterhalten mittlerweile Vertretungen in der Türkei.

Alternativen zu Europa gesucht

Völlig problemfrei sind die Wirtschaftsbeziehungen jedoch nicht. Türkische Unternehmer und internationale Firmen mit türkischen Mitarbeitern beklagen sich seit Jahren über den Visumzwang der Europäer, der Geschäftsreisen nach Europa verkompliziert und manchmal sogar unmöglich macht. Gleichzeitig suchen türkische Firmen immer häufiger nach Chancen außerhalb Europas. Fatih Zedele, Chef eines Herstellers von Fahrzeugketten am Stadtrand von Istanbul, berichtet von einer starken Gewichtsverlagerung. Vor zehn Jahren gingen 60 Prozent der Exporte seiner Firma nach Europa. Heute sind es zehn Prozent. „Der Markt in Europa ist gesättigt, da kann man nichts mehr verkaufen“, sagt Zedele. „In Afrika ist es dagegen leicht.“

Neue Absatzchancen versprechen sich türkische Firmen ebenfalls von der Entwicklung beim östlichen Nachbarn Iran, der nach dem Ende der internationalen Wirtschaftssanktionen einen enormen Nachholbedarf an Investitionen und Importen hat. Allerdings sehen Kritiker auch erhebliche Schwächen im türkischen Wirtschaftsgefüge. So machen Hightech-Güter nur zwei Prozent der in der Türkei hergestellten Produkte aus.

Europäer sorgen sich zudem wegen der starken politischen Spannungen in der Türkei, wo Präsident Recep Tayyip Erdoğan den Druck auf Andersdenkende erhöht, und dem Krieg im Nachbarland Syrien. Der Tourismus leidet schon jetzt unter den Folgen der Terroranschläge in Istanbul und Ankara in den vergangenen Monaten. Aus Deutschland, das jedes Jahr rund fünf Millionen Urlauber in die Türkei schickt, werden Stornierungsraten von 40 Prozent gemeldet. In Istanbul sank die Zahl der Besucher in den ersten drei Monaten auf die niedrigste Zahl seit fünf Jahren, in Kappadokien wurden 50 Prozent weniger Besucher registriert als im vergangenen Jahr.

Nicht nur Feriengäste sind verunsichert. Internationale Rating-Agenturen warnen vor Risken in der Türkei. Die Erdoğan-Regierung geht seit Monaten gegen Unternehmen vor, die zur Bewegung seines Erzfeinds Fethullah Gülen gezählt werden, eines islamischen Predigers, der in den USA lebt, in der Türkei jedoch viele Anhänger hat. Kritiker werfen der Regierung vor, mehrere Firmen der Gülen-Bewegung ohne rechtliche Grundlage unter staatliche Zwangsverwaltung gestellt zu haben. Zugleich macht Erdoğan immer wieder öffentlich Druck auf die nominell unabhängige türkische Zentralbank – kein Klima, das Investoren besonders optimistisch stimmen kann.

Auch hat der Syrien-Krieg einige Standortvorteile der Türkei mit Blick auf den Nahen Osten erschüttert. Vor dem Beginn des Aufstands gegen Präsident Baschar al-Assad im Jahr 2013 durchquerten jeden Tag Hunderte mit Exportgütern beladene türkische Trucks das syrische Staatsgebiet auf dem Weg zu den Märkten im arabischen Raum. Diese Route ist den türkischen Logistikern jetzt versperrt. Der neu aufgeflammte Kurden-Konflikt, der weite Teile Südostanatoliens erfasst hat, bringt Firmenchefs und Anleger ebenso ins Grübeln.

AUF EINEN BLICK

Wirtschaftspartner. Die Türkei und die EU sind wirtschaftlich bereits eng vernetzt. Mit dazu beigetragen hat ein Zollabkommen aus dem Jahr 1995, mit dem die meisten Handelsbeschränkungen gefallen sind. Unter den weltweit zehn wichtigsten Abnehmern türkischer Exporte sind heute fünf EU-Länder, angeführt von Deutschland. Auch das Handelsvolumen zwischen der Türkei und Österreich hat sich seit dem Jahr 1990 auf rund 2,5 Milliarden Euro vervierfacht. Österreich liefert Maschinen, Stahl und Kunststoffe in Primärform. Die Türkei liefert im Gegenzug vor allem Bekleidung, Kraftfahrzeuge, Gemüse, Früchte und elektrische Geräte. Seit dem Jahr 2000 verzeichnete die Türkei auch einen Tourismusboom. Die Einnahmen aus dem Fremdenverkehr haben sich bis 2013 verfünffacht.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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