„Ohne Visumfreiheit haben wir ein großes Problem“

Selim Yenel, einst Botschafter der Türkei in Wien, jetzt bei der EU
Selim Yenel, einst Botschafter der Türkei in Wien, jetzt bei der EUBruckberger
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Interview. Selim Yenel, EU-Botschafter der Türkei, warnt die Mitgliedstaaten der Union davor, gemachte Zusagen nicht einzuhalten. Die Türkei sei bereit, die EU-Außengrenzen zu sichern.

Die Presse: Wie würden Sie die Beziehung zwischen der Türkei und der EU beschreiben: als Liebeshochzeit oder als Vernunftehe?

Selim Yenel: Verheiratet sind wir noch lang nicht, wir flirten noch. Und dieser Flirt dauert schon viel zu lang. Bis zum vergangenen September waren wir wieder einmal in einer Trennungsphase, doch dann haben wir wieder zueinandergefunden. Die Flüchtlingskrise hat uns zusammengeführt. Um bei Ihrem Vergleich zu bleiben: Der Weg zum Traualtar ist noch weit. Ich glaube allerdings, dass wir mittlerweile besser wissen, was wir aneinander haben.

Sie haben die Flüchtlingskrise angesprochen. Aus der europäischen Perspektive betrachtet ist die Annäherung an die Türkei definitiv ein Gebot der Vernunft. Denkt man in Ankara ebenso pragmatisch, oder verbindet man mit Europa größere Hoffnungen?

Trotz aller Differenzen sehen wir uns nach wie vor als Teil Europas und wollen eines Tages der EU angehören. Nur hat sich der Glauben daran verflüchtigt. Viele Menschen sind überzeugt, dass die EU irgendwelche Ausreden finden wird, um eine Annäherung zu verhindern. In den vergangenen Jahren haben wir uns zu weit voneinander entfernt. Deshalb ist die Aufhebung der Visumpflicht für Türken in der EU so wichtig. Wir müssen wieder mehr Vertrauen zueinander haben. Die momentane Situation bietet eine einmalige Gelegenheit dafür.

Wo muss Europa wieder vertrauenswürdiger werden, und wo die Türkei?

Wenn die EU etwas verspricht, dann muss sie sich auch daran halten. Es kann nicht sein, dass die EU-Kommission etwas sagt, und die Mitgliedstaaten etwas völlig anderes. Vergangenen Herbst beispielsweise, als es um die Eröffnung weiterer Beitrittskapitel ging, stand Zypern auf der Bremse. Nun wird sich weisen, ob die Visumfreiheit nicht dasselbe Schicksal erleiden wird. Wenn wir alle 72 damit verbundenen Auflagen umsetzen und die EU-Kommission grünes Licht gibt, es aber Bedenken in einigen EU-Hauptstädten gibt, wird das Misstrauen wieder zunehmen. Und was uns selbst anbelangt, so müssen wir in unseren Reformbemühungen wieder ambitionierter werden. Dafür benötigen wir die Hilfe der EU.

In welchen Bereichen?

In jenen, die von den Beitrittsverhandlungen tangiert werden. Seit fünf, sechs Jahren herrscht Stillstand. Niemand kann sagen, ob wir eines Tages EU-Mitglied sein werden. Ohne Gewissheit gibt es aber keinen Reformantrieb.

Zurück zu den Visa. Wird die Türkei, falls es doch keine Liberalisierung gibt, den Pakt mit der EU zur Eindämmung der Flüchtlingskrise aufkündigen?

Die Aufhebung der Visumpflicht ist der wichtigste Bestandteil des Abkommens – natürlich vorausgesetzt, wir erfüllen alle Kriterien. Wir wollen keine Abkürzungen nehmen. Wenn die Kommission befindet, dass wir diesbezüglich noch nicht alle Hausaufgaben gemacht haben, werden wir weiter daran arbeiten und keine Vorwürfe an die EU richten. Wenn aber die Kommission die Visumfreiheit befürwortet, das Europaparlament oder der Rat dem aber nicht Folge leistet, dann haben wir ein großes Problem.

Sie wissen aber mindestens genauso gut wie ich, dass die Entscheidungsfindung im Parlament und Rat komplexer ist und möglicherweise mehr Zeit erfordert.

Und das bringt uns zurück zum Thema Vertrauen. Wir sind der Meinung, dass die EU uns ein Versprechen gegeben hat: „Ihr erfüllt alle Auflagen, und im Gegenzug gewähren wir Visumfreiheit.“ Wie können wir einem Europa vertrauen, das sein Wort nicht hält?

Ist der Flüchtlingsdeal hinfällig, wenn die Visumpflicht nicht aufgehoben wird?

Wenn die EU ihr Wort nicht hält, werden wir das Abkommen zur Rückübernahme von Drittstaatsangehörigen aus der EU aufkündigen.

Das alles klingt doch mehr nach arrangierter Ehe als nach Liebe.

Hier geht es nicht um Emotionen.

Nichtsdestoweniger geht es hier auch um Sorgen. Etwa darum, ob es aus europäischer Perspektive wünschenswert ist, dass die EU an Syrien grenzt.

Dieses Argument hat es auch in Zeiten gegeben, als in unserer Nachbarschaft noch Ruhe geherrscht hat. Mein Gegenargument lautet folgendermaßen: Dieses Gebiet ist bereits jetzt de facto die Außengrenze der EU. Die Türkei tut nichts anderes, als Europa zu beschützen, wir haben 2,7 Millionen Flüchtlinge aus Syrien aufgenommen. Jetzt überwachen wir zusätzlich auch die griechische Grenze. Ob die Türkei EU-Mitglied ist oder nicht, wird daran nichts ändern.

Also führt die Türkei der EU vor, dass es doch möglich ist, die eigenen Grenzen zu sichern.

Wir tun es die ganze Zeit. Wenn wir der EU eines Tages beitreten, wird das die Sicherheit der Union erhöhen.

Müssen die Griechen von der Türkei lernen, wie man Grenzen sichert?

Unser EU-Beitritt würde vieles vereinfachen, weil dann nicht mehr Griechenland für die Sicherung der EU-Außengrenze verantwortlich wäre.

Jeder Mitgliedstaat bringt eigene nationale Prioritäten nach Brüssel mit. Wie würde die Türkei ihre Rolle als EU-Mitglied auslegen?

Wir sehen unsere Aufgabe als die eines stabilen Ankers in der Nahost-Region und einer Brücke zwischen den Kulturen. Das kann sogar den Kampf gegen islamistischen Extremismus erleichtern, denn mit der Türkei als Mitglied könnte die EU glaubhaft argumentieren, dass sie kein christlicher Klub, sondern für alle Glaubensrichtungen offen ist. Außerdem würden wir die EU gern als globalen Player positionieren, der eine aktive Außenpolitik betreibt und als Gegengewicht zu Russland fungiert.

Sind Sie über einen möglichen Austritt Großbritanniens aus der EU besorgt?

Ich könnte mir vorstellen, dass die Annäherung der Türkei an die EU gegen den Brexit wirken könnte, weil sie beweisen würde, dass die EU nach wie vor Dinge auf die Reihe bekommt. Ein Austritt wäre keine gute Sache. Die Briten haben sich stets als Anwälte des türkischen EU-Beitritts bewährt, ihre Stimme würde uns fehlen.

Jetzt haben Sie aber einen wortmächtigen Anwalt in Berlin. Das war nicht immer so. Noch vor einigen Jahren sah Kanzlerin Angela Merkel die Türkei als Partner, aber nicht als EU-Mitglied.

Ich glaube nicht, dass Merkel ihre Meinung bezüglich der türkischen EU-Mitgliedschaft stark geändert hat. Diese Meinung war aber nuancierter als die des ehemaligen französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy, der die Türkei partout nicht in die EU aufnehmen wollte. Merkels Standpunkt war, dass die EU-Mitgliedschaft von der Erfüllung aller Beitrittskriterien abhängt. Die Ereignisse der vergangenen Monate haben möglicherweise ihre Meinung beeinflusst. Sie hat eine sehr gute Arbeitsbeziehung mit unserem Premier, Ahmet Davutoğlu.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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