Eine europäische Annäherung in Wellen

Ein begeisterter Europäer: Atatürk
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Geschichte. Staatsgründer Kemal Atatürk wollte die Türkei in Europa verankern. Bis heute sucht das Land aber nach einer Form der Angleichung, die zur eigenen Tradition passt.

Der Zusammenbruch des Osmanischen Reichs Anfang des 20. Jahrhunderts war ein Trauma, aber auch eine Chance der Neuorientierung. Diese Chance wusste der Staatsgründer der Türkei zu nutzen. Mustafa Kemal Atatürk kämpfte seit seiner Jugend gegen die verstaubten, durch das Kalifat geprägten Verhältnisse im Land. Er war von der französischen Revolution fasziniert, sah sich als Modernisierer, begeisterte sich für einen westlichen Lebensstil. Von den europäischen Ideen überzeugt, setzte er auf einen strikt säkularen Staat.

„Es gibt verschiedene Kulturen“, sagte Atatürk, „aber nur eine Zivilisation, die europäische.“ Kein Präsident, kein Regierungschef nach ihm, hat das Land derart radikal reformiert. Keiner hat so mit Traditionen gebrochen und die Türkei so stark an Europa angepasst wie er. Atatürk ersetzte den islamischen Rechtskodex durch ein mitteleuropäisches Rechtssystem, ließ die Schrift, den Kalender und sogar die Kleidungsregeln an europäische Standards anpassen. Der aus seiner militärischen Vergangenheit geprägte Staatschef legte den Grundstein für eine Neuorientierung des Landes, gleichzeitig riskierte er aber eine Spaltung der teilweise extrem traditionell ausgerichteten Gesellschaft – eine Spaltung, die das Land bis heute prägt.

1952 der Beitritt zur Nato

Als 1945 der Nachfolger von Atatürk, Ìsmet Ìnönü, das autoritäre Einparteiensystem auflöste und sich in der Türkei neue politische Gruppen etablieren durften, wurde deutlich, dass sich Teile der Bevölkerung nach wie vor für moslemische Werte und gegen eine allzu große Anpassung an Europa richteten. Dennoch setzte Ankara den Weg fort: 1952 mit dem Beitritt zur Nato, mit einer Liberalisierung der Wirtschaft und 1959 mit einem Beitrittsantrag zur EWG. Angesichts mehrerer politischer Umbrüche und mehrerer Militärputschs konnte die Führung des Landes allerdings nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Spannungen zwischen Anhängern Atatürks (Kemalisten) und Traditionalisten fixer Bestandteil der türkischen Zeitgeschichte geblieben waren.

Nach einem Putsch im Jahr 1960 setzte der wiederbestellte Regierungschef Ìnönü die Assoziierung an die erst wenige Jahre zuvor gegründete Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) fort. Als 1963 das „Ankara-Abkommen“ in Kraft trat, erhielt die Türkei nicht bloß einen schrittweisen wirtschaftlichen Zugang, sondern auch die Aussicht auf einen späteren EWG-Vollbeitritt. Die instabile Lage im Land verzögerte allerdings die notwendigen Angleichungen und sorgte dafür, dass in europäischen Hauptstädten Zweifel an der Paktfähigkeit Ankaras aufkamen.

Beziehungen nach Putsch eingefroren

Nachdem 1980 wieder einmal das Militär die Macht im Staat übernommen und das Kriegsrecht verhängt hatte, wurden die Beziehungen vonseiten der Europäischen Gemeinschaft (EG) eingefroren. Schon Mitte der 1970er-Jahre hatte die Besetzung des Nordens Zyperns durch das türkische Militär zu einem Konflikt mit Griechenland geführt. Als das Nachbarland 1981 der EG beitrat, musste der türkischen Führung klar geworden sein, dass sich die angestrebte Annäherung an Westeuropa nun weiter verzögern würde.

Eine neue Welle der Europäisierung der Türkei leitete ab 1983 Regierungschef Turgut Özal ein. Er setzte mit seiner Mutterlandspartei auf eine Synthese von türkischem Nationalismus und islamischer Tradition. Wirtschaftspolitisch orientierte er sich stark an der freien Marktwirtschaft Westeuropas. Özal überreichte am 14. April 1987 in Brüssel den Beitrittsantrag zur EG, der allerdings zwei Jahre später von der Staatengemeinschaft abgelehnt wurde.

Während die Türkei über Jahrzehnte an internen politischen Spannungen litt, extreme politische Kräfte und separatistische Kurden für Instabilität sorgten, setzten Reformkräfte im Land weiter auf Europa. Die Annäherung an das westeuropäische System sollte aus ihrer Sicht die Wende zu einem modernen Staat unumkehrbar machen. Diese Gruppen werben auch heute noch in der Europäischen Union für ein Verständnis der türkischen Situation.

Zollunion als erster konkreter Schritt

Ein erster großer Schritt der Annäherung gelang 1996 mit dem Inkrafttreten der Zollunion. Mit ihr übernahm die Türkei das Wirtschaftsrecht der Gemeinschaft. Just zu einem Zeitpunkt, als im Land erstmals mit der Wohlfahrtspartei (RP) eine islamistische Partei zur stärksten Kraft wurde, öffnete sich neuerlich ein Tor Richtung Europäischer Union. Die Türkei stand an der Schwelle zu einer engen Kooperation, die nicht erneut an internen Problemen scheitern sollte. Kurz nach einem vom Militär forcierten Rücktritt des islamistischen Regierungschefs Necmettin Erbakan entschieden die Staats- und Regierungschefs der EU im Dezember 1997 denn auch, den Beitrittsprozess trotz aller innenpolitischer Probleme wiederzubeleben. Ankara erhielt aber noch keine fixe Zusage für einen Beitrittsstatus. Erst 1999 wurde bei einem EU-Gipfel in Helsinki eine Einigung über die Bedingungen für einen türkischen EU-Beitritt erzielt. Ankara wurde daraufhin als Beitrittskandidat anerkannt. Erneut zeigte die Türkei mit internen gesellschaftlichen Spannungen, dass sie sich selbst noch nicht gänzlich für diesen Weg entschieden hatte. Verstärkt wurde dieses unklare Bild durch Korruptionsfälle und eine Wirtschaftskrise, die fast zu einem Staatsbankrott geführt hätten.

Mitten in dieser Ära der Verwerfungen etablierte sich mit Recep Tayyip Erdogan ein Politiker, der erneut daran ging, die gegensätzlichen Strömungen in seinem Land zusammenzuführen. AKP-Vorsitzender Erdogan stammte zwar ebenfalls aus dem islamistisch geprägten Lager, zeigte sich aber bereit, die Reformen fortzusetzen. Unter anderem schaffte seine Regierung die Todesstrafe ab, leitete eine Normalisierung im Umgang mit der kurdischen Minderheit ein und drängte in Richtung EU-Mitgliedschaft.

Erdogan galt, als er 2003 erstmals die Regierungsgeschäfte übernahm, bei den europäischen Partnern als Hoffnungsträger. Obwohl er von Beginn an traditionell moslemisch orientierten Gruppen Zugeständnisse machte, galt er als westlich orientiert. Daran änderte sich auch nichts, als er den USA und ihren Verbündeten im Irak-Krieg die Nutzung der Militärbasen verweigerte.

2004 entschieden die Staats- und Regierungschefs der EU die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Ankara. Die auch von Österreich unterstützten deutschen Bestrebungen, der Türkei lediglich eine privilegierte Partnerschaft anzubieten, fanden keine Mehrheit. Allerdings wurde festgehalten, dass die Verhandlungen von Beginn an „ergebnisoffen“ geführt würden. Der Türkei sollte signalisiert werden, dass am Ende nicht unbedingt ein Vollbeitritt stehen müsse.

Der ungelöste Zypern-Konflikt, die Vorbehalte in einigen EU-Ländern, aber auch die Wandlung Erdogans vom Reformer zum autoritär regierenden Staatschef haben in den vergangenen Jahren das Verhältnis zwischen den EU-Regierungen und Ankara wieder abgekühlt. Als die türkische Regierung 2013 Proteste im Gezi-Park gewaltsam niederschlug, war für viele EU-Partner die Schmerzgrenze erreicht. Eine eingeschränkte Meinungsfreiheit, Repressionen gegen Oppositionelle, so hieß es regelmäßig in Bewertungen der Beitrittsreife, passten nicht in die EU.

Die Türkei drohte sich mehr und mehr von Europa zu entfernen. Wäre da nicht die Flüchtlingswelle aus Syrien gewesen, die eine gegenseitige Abhängigkeit deutlich machte, die Trennung wäre vielleicht weiter fortgeschritten. Mit einem Aktionsplan einigten sich beide Seiten im März 2016 über die Eindämmung der Flüchtlingswelle, eine Visafreiheit für Türken und die Wiederbelebung der Beitrittsverhandlungen. Eine Chance für die Türkei, die allerdings erst durch eine Rückkehr auf den Reformweg realisiert werden kann.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 30.04.2016)

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