Sonderschule ist „keine Entwertung“

Lehrervertreter Paul Kimberger
Lehrervertreter Paul Kimberger(c) APA/HERBERT PFARRHOFER
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„Presse“-Debatte. Macht die Sonderschule fit für die Lebenshilfe? Ist Inklusion ein moralisches Unternehmen? Und werden Kinder mit Behinderung dabei vergessen? Eine Diskussion.

Wien. Rein theoretisch sollten Sonderschulen, in denen Kinder mit Behinderung separat beschult werden, eine Art Auslaufmodell sein. Bis 2020 sollten sie, so der Wille der Regierung, zur Ausnahme werden. Praktisch ist davon wenig zu sehen. Konkreten Plan gibt es keinen, und bei der vor wenigen Monaten präsentierten Bildungsreform wurde das Thema gar komplett vergessen. Unter dem Titel „Die vergessene Inklusion“ diskutieren Experten am Montag bei der Veranstaltungsreihe über die Bildungsreform des Instituts für Bildungswissenschaften der Uni Wien und der „Presse“ deshalb das kontroversielle Thema.

In einem Punkt waren sich die Experten einig: Es sollte tatsächlich weniger Sonderschulen geben, und mehr Kinder mit Behinderung sollten im regulären Schulsystem aufgenommen werden. Darüber, wie weit die Abschaffung gehen soll, wurde jedoch heftig diskutiert: „Die Sonderschule macht fit für die Lebenshilfe“, zitierte Lebenshilfepräsident Germain Weber einen provokanten Vorwurf. Er plädierte für eine weitestgehende Abschaffung. Sonderschulen würden von Beginn an ein Parallelsystem für Menschen mit Behinderung schaffen. Insofern sei es nicht verwunderlich, dass diese Menschen dann den Wechsel vom Parallelsystem in die gewöhnliche Arbeitswelt nicht schaffen.

„Falsche Political Correctness“

Anders sah das Bernd Ahrbeck, Erziehungswissenschaftler an der Humboldt-Uni Berlin. Zwar will auch er weniger Sonderschulen („Besser wären sowieso Sonderklassen“), eine komplette Abschaffung hält er aber nicht für gut. „Etwa für Kinder mit schweren psychischen Erkrankungen und Verhaltensstörungen gibt es weltweit keine Modelle für Inklusion, die funktionieren. Ich würde darüber nachdenken, ob bestimmte Menschen nicht doch Besonderes brauchen.“

Das sei keine Etikettierung. „Der Umstand, dass man eine Besonderheit erkennen kann, kommt keiner Entwertung gleich“, sagte Ahrbeck und warnte vor einer „überdimensionalen Entwertungsangst aus Political Correctness“.

Auch Lehrervertreter Paul Kimberger zeigte sich, was eine komplette Abschaffung anbelangt, skeptisch: „Inklusion ist für mich nicht eine Frage der Ideologie, sondern eine Frage des einzelnen Kindes.“ Deshalb könne keine einheitliche Lösung gefunden werden. Auch Ahrbeck plädierte dafür, Inklusion nicht zu einem „moralischen Unternehmen“ zu machen, und stellte die provokante Frage: „Kann es sein, dass wir das Kind vergessen?“

Nicht vergessen wurde bei der Diskussion die Frage der Finanzierung. Menschen mit Behinderung zu inkludieren kostet. „Das ist nicht ohne massive Investitionen zu machen“, sagte Kimberger und sprach von Milliardeninvestitionen, die in den nächsten Jahrzehnten allein in die Umbauten zur Barrierefreiheit gesteckt werden müssten. Weber widersprach: Die Kosten wären nur mittelfristig höher. Über einen Zeitraum von 40 Jahren komme den Staat eine inklusive Beschulung billiger, da sie viel mehr Menschen mit Behinderung als bisher den Weg zum zweiten oder gar ersten Arbeitsmarkt statt nur in staatlich geförderte Werkstätten eröffne.

Kaum Integration an AHS

Eltern von Kindern mit Behinderung haben in Österreich seit 1993 (Volksschule) bzw. 1996 (NMS, theoretisch auch AHS) die Möglichkeit, zu wählen, ob ihr Kind in einer Sonderschule oder inklusiv, also in einer Klasse mit Kindern ohne Behinderung, beschult wird. Als „Anklopfrecht“ bezeichnete das Weber. Viel mehr sei es nämlich nicht. Auch Gottfried Biewer, Vorstand des Instituts für Bildungswissenschaften, sah besonders in der Sekundarstufe „eine massive Problemlage“. Dort könnten sich „ganze Schultypen aus der Inklusion ausklinken“. Integrationsklassen gebe es nämlich fast ausschließlich an Neuen Mittelschulen, kaum aber an AHS.

Die nächste Diskussion findet am 23. Mai statt. 15.00 Uhr, Hörsaal 1, Sensengasse 3a, 1090 Wien. Thema: Schulautonomie.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.05.2016)

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