Wollen wir einen türkischen Gottesstaat in der Union?

In der Türkei wird ernsthaft über eine islamische Verfassung diskutiert. Genau das hat uns in der Europäischen Union noch dringend gefehlt.

Deutschlands Außenminister Frank Walter Steinmeier sah sich jüngst genötigt, eine etwas eigenartige Feststellung zu treffen: „Auch wenn die Bedeutung des Islam in der türkischen Gesellschaft zugenommen hat: Ministerpräsident Davutoğlu hat erklärt, an der säkularen Verfassung festzuhalten. Es gibt für mich keinen Anlass, über die Zukunft der Türkei als Gottesstaat zu spekulieren.“

Wenn Steinmeier tatsächlich keinen Anlass sieht, sich über die Entwicklung der Türkei in Richtung eines islamischen Gottesstaates Gedanken zu machen, dann verfügt der SPD-Politiker über ein robust entwickeltes Talent, die Wirklichkeit auszublenden. Denn erst vor ein paar Tagen hat der türkische Parlamentspräsident Ismail Kharaman, einer der einflussreichsten Politiker der Regierungspartei AKP, erklärt: „Wir sind ein muslimisches Land. Als Konsequenz müssen wir eine religiöse Verfassung haben.“

Das wäre vielleicht noch nicht so direkt der Gottesstaat à la Iran – aber doch ein bemerkenswert großer Schritt in diese Richtung. Dass sich Staatschef Recep Tayyip Erdoğan kurz darauf von dieser Forderung distanzierte, sagt überhaupt nichts – der Mann ist ein gewiefter Taktiker mit ähnlichen Intentionen. Nicht zufällig hat er wiederholt ein Gedicht zitiert, in dem es hieß: „Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten.“

Nun könnte man es getrost den Türken überlassen, einen Gottesstaat zu errichten, wenn sie das wünschen, es ist ja ihr gutes Recht. Grotesk ist freilich, dass just in dem Moment, als in der Türkei über Gott als obersten Gesetzgeber diskutiert wird, die EU wieder allen Ernstes mit diesem Land über einen Beitritt zur EU zu verhandeln beginnt. Ein ausgewachsener Gottesstaat als Mitglied, noch dazu eines der größten und einflussreichsten Mitglieder – das wäre selbst für die Verhältnisse der EU überaus bemerkenswert.

Es ist im Grunde eine enorme Erniedrigung, die türkische Spitzenpolitiker der Union zufügen. Die Botschaft an Brüssel und Berlin ist eindeutig: Seht her, wir können auf euren Werten wie dem säkularen Staat herumtrampeln, wie es uns gefällt – ihr werdet trotzdem zu Kreuze kriechen und zumindest so tun, als ob ihr mit uns über die Mitgliedschaft verhandelt.

Das Ganze ist nicht weniger als eine Unterwerfung. Auf der Symbolebene zwar, aber trotzdem eine Unterwerfung. Im Westen wird das weitgehend negiert, weil das Sensorium dafür weitgehend abhanden gekommen ist; in der islamischen Welt wird das hingegen sehr wohl registriert – und zwar nicht ohne Vergnügen.

Dass der deutsche Außenminister die Forderung des türkischen Parlamentspräsidenten nach einer religiösen Verfassung nicht vernehmen will, passt bestens in dieses Bild. Genauso wie die nun fast schon täglichen Versuche Erdoğans, überall in der EU Kritik an seiner Person verbieten zu lassen, Satiriker ins Gefängnis zu bringen oder sich die Definitionshoheit darüber anzumaßen, was erlaubte Kunst sein soll und was nicht.

Wann immer europäische Staaten dem türkischen Autokraten da nicht resolut entgegentreten – was sie nie tun – wird die Unterwerfung wieder ein Stück vorangetrieben. Der Grund für dieses schändliche Kuschen ist bekannt: die Unfähigkeit der Westeuropäer, im vergangenen Jahr ihre Außengrenzen so gegen die Völkerwanderung zu sichern, wie das gesetzlich geboten und politisch vernünftig gewesen wäre. Dass sie dies unterließen, verhalf Erdoğan zu jener Verhandlungsmacht, die er nun zur Demütigung Europas nutzen kann.

Solange die EU ihre Außengrenzen nicht selbst zu schließen vermag, ohne dabei von fremden Mächten (wie der Türkei) abhängig zu sein, wird diese Unterwerfung auch kein Ende finden. Und erst, wenn das erreicht ist, wird die EU imstande sein, zu tun, was schon längst überfällig ist: die Verhandlungen über einen Beitritt der Türkei endlich offiziell und ohne Wenn und Aber zu beenden.

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Zum Autor:

Christian Ortner ist Kolumnist und Autor in Wien. Er leitet “Ortneronline. Das Zentralorgan des Neoliberalismus“.

(Print-Ausgabe, 06.05.2016)

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