Als der Duce mit Giftbomben sein Imperium baute

Krieg Abessinien-Italien 1935/36: Mussolini Plakat
Krieg Abessinien-Italien 1935/36: Mussolini Plakatullstein bild / picturedesk.com
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Vor 80 Jahren eroberte das faschistische Italien das alte Kaiserreich Äthiopien – nach massiven Luftangriffen mit Senfgasbomben und gezielten Attacken auf Zivilisten.

Spät am Abend des 9. Mai 1936 trat ein ganz besonders stolzer Benito Mussolini auf den Balkon des römischen Palazzo Venezia: „Italiener! Italien hat sein Imperium zurück!“, verkündete er lauthals die Annexion Abessiniens (Äthiopiens). „Duce! Duce!“ jubelten ihm etwa hunderttausend Menschen euphorisch zu, 42 Mal riefen sie den Diktator auf den Balkon zurück. Das faschistische Italien befand sich an jenem lauen Frühlingsabend in Ekstase, Mussolini im Zenit der Macht: Endlich war Italien in die Liga der Großmächte aufgestiegen, so die allgemeine Überzeugung.

Innerhalb von sieben Monaten hatten Italiens Armee und Luftwaffe das alte Kaiserreich am Horn von Afrika unter ihre Gewalt gebracht. Doch trotz modernen Geräts waren die gut 400.000 Italiener auf erbitterten Widerstand der Einheiten des Negus (eigentlich „Neguse Negest“, bedeutet Kaiser von Äthiopien) gestoßen, die oft spärlich ausgerüstet mit Lanzen, Steinen und nur wenigen Gewehren und Kanonen ihr Land verteidigten. Erst massive Gift-Bombardements und systematische Attacken auf Zivilisten brachen die Gegenwehr. Mussolini hatte befohlen, „den Gegner total zu erobern und zu vernichten“.


Zahnloser Völkerbund
. In Mussolinis imperialen Fantasien hatte das an die italienischen Kolonien Somaliland und Eritrea angrenzende Abessinien schon lang vor 1935 eine zentrale Rolle gespielt: Ganz öffentlich träumte der Duce von einer italienischen Siedlung am Horn von Afrika, einem „Zeugnis für die Überlegenheit der römischen Zivilisation“. Das afrikanische Reich war noch nie kolonisiert worden: Im 19. Jh. hatte Äthiopiens Heer eine Invasion Italiens abgewehrt. Diese „Schmach von Adua“ (in der äthiopischen Stadt fand die entscheidende Schlacht statt) blieb für Italiens Nationalisten eine offene Wunde, die der Duce zu heilen versprach: „Wir werden jeden bekämpfen, der unserem Ziel im Wege steht.“

1935 sah der Diktator die Zeit reif für einen Angriff: Ein Grenzzwischenfall diente ihm als Vorwand, den Krieg in aller Öffentlichkeit vorzubereiten. Mussolini setzte darauf, dass die Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich zurückhaltend reagieren würden: Sie wollten den Noch-Verbündeten in Rom nicht in die Arme des immer mächtigeren NS-Deutschlands treiben.

Der Duce hatte richtig kalkuliert. Die Briten mobilisierten zwar ihre Flotte im Mittelmeer, griffen aber nicht ein, als Mussolinis Truppen am 3. Oktober 1935 ohne Kriegserklärung in Äthiopien einmarschierten. Der äthiopische Kaiser, Haile Selassie, protestierte beim Völkerbund, dem sein Land angehörte. In Genf brandmarkte man denn auch den Angriff als „Aggression“ und verhängte Sanktionen gegen das Regime in Rom: Untersagt wurde „der Handel mit Kamelen, Mauleseln und Aluminium“. Stahl, Kohle und Öl, zentrale Produkte für die Kriegswirtschaft, waren nicht vom Embargo betroffen. Das hatten London und Paris verhindert.

Die „Abessinien-Krise“ führte aller Welt die Zahnlosigkeit des Völkerbundes vor Augen. Noch deutlicher wurde aber in den nächsten Monaten, wie wenig Gewicht das Völkerrecht hatte. Niemand reagierte, als Mussolinis Afrika-Abenteuer zum brutalen Verbrechen an der äthiopischen Bevölkerung ausartete. Denn nachdem die italienische Offensive im Herbst wegen äthiopischen Widerstands im gebirgigen und zerklüfteten Gelände ins Stocken geraten war, wechselte der Duce die Strategie: Er setzte Marschall Pietro Badoglio ans Kommando, an der südlichen Front übernahm Mussolinis Mann fürs Grobe, General Rodolfo Graziani, die Führung. Der Duce dekretierte: „Vor der Regenzeit muss Addis Abeba erobert werden. Egal mit welchen Mitteln.“

Badoglio und Graziani erhielten Ende Dezember freie Hand für den Einsatz von Senfgas, mit dem die beiden bereits zuvor in Libyen Erfahrung gesammelt hatten. Von Flugzeugen aus wurde das tödliche Gift auf Truppen, Dörfer, Herden, Felder, Flüsse und Seen abgeworfen. Viele Äthiopier erstickten, als sie das vergiftete Wasser tranken. Andere starben an den ätzenden Wunden. „Das ist kein Krieg. Das ist Folter an wehrlosen Männern, Frauen und Kindern“, schrieb der britische Arzt John Lelly vom Roten Kreuz empört in einem Bericht. Insgesamt 300 Tonnen Senfgas detonierten von Ende Dezember 1935 bis Ende März 1936 in Äthiopien. Der Giftgaseinsatz war ein klarer Bruch internationaler Verträge, die Rom unterzeichnet hatte. Graziani ließ zudem Rebellen aus Flugzeugen werfen und wahllos Zivilisten erschießen.

Bald begann Italien, auch Spitäler des Roten Kreuzes mit Senfgas zu bombardieren. Die Organisation wurde dafür „verantwortlich“ gemacht, den Westen über die Giftbomben informiert zu haben. Kampfpilot und Duce-Sohn Vittorio Mussolini war von den Angriffen beeindruckt: Er schwärmte von einem „bewegenden Schauspiel großer Schönheit.“ Mitleid empfand er keines: „Der Abessinier ist ohnehin nur ein Tier.“

Am 5. Mai 1936 zog Badoglio in Addis Abeba ein, der Kaiser war kurz davor nach England geflohen. Mussolini ernannte Graziani zum Vizekönig Äthiopiens. Dieser machte sich umgehend daran, in der neuen Kolonie ein Terrorregime zu errichten: Äthiopische Rebellen, die weiterhin gegen die Italiener kämpften, wurden öffentlich hingerichtet, ihre abgehackten Köpfe tagelang in Dörfern zur Schau gestellt. Helfer – und mutmaßliche Helfer – der Partisanen wurden erschossen oder in Konzentrationslager gesperrt, darunter viele Mönche. Dörfer wurden weiter flächendeckend mit Giftgas bombardiert, „um den Widerstand zu brechen“. Offiziell herrschte in der Kolonie strikte Rassentrennung: „Ich will kein gemischtes Blut“, befahl der Duce. Italienern wurde untersagt, Äthiopierinnen zu heiraten.

Am 19. Februar 1937 erreichte die Grausamkeit einen neuen Höhepunkt: An diesem Tag hatte Graziani äthiopische Adelige in seinen Palast nach Addis Abeba geladen, um die Geburt des Prinzen von Neapel zu feiern. Nach der Zeremonie sollten ärmere Äthiopier, die sich im Innenhof des Palastes versammelt hatten, mit Silbermünzen beschenkt werden. Doch gleich zu Beginn der Feier explodierten mehrere Bomben, Graziani wurde verletzt und ins Krankenhaus gebracht. „Die Italiener begannen, wie verrückt auf die Äthiopier zu schießen. Bald lagen 300 Leichen im Innenhof. Kaum ein Äthiopier verließ den Palast lebendig“, beschrieb der ungarische Arzt Ladislav Svava.

Auch der US-Botschafter protokollierte entsetzt: „Gleich nach dem Attentat strömten bewaffnete faschistische Schwarzhemden auf die Straßen und brachten alle um, die ihnen über den Weg liefen: Frauen, Kinder, Alte. Sie brannten Häuser nieder, schossen auf die fliehenden Bewohner. Seit dem türkischen Massaker an Armeniern habe ich nicht eine solche Brutalität erlebt.“ Das Pogrom dauerte drei Tage. Bis zu 6000 Äthiopier sollen ermordet worden sein. Graziani wurde nur leicht verletzt.


Keine Prozesse.
1941 eroberte Haile Selassie mit der Hilfe britischer und anderer Commonwealth-Truppen (etwa aus Südafrika, Nigeria, Kenia, Australien), Franzosen und Belgiern sein Land zurück. Bis zu 700.000 Äthiopier wurden unter italienischer Herrschaft ermordet. Nach 1945 bemühte sich der Kaiser vergeblich um ein internationales Kriegsverbrechertribunal für Äthiopien. Die Alliierten hielten in den Wirren des Kalten Krieges solche Verfahren für politisch inopportun. Italien musste nur 25 Millionen Dollar Entschädigung zahlen, danach wurden die Massaker weitgehend unter den Teppich gekehrt.

Erst 1996 gab Rom öffentlich zu, Gas eingesetzt zu haben. Folgen hatte das nicht: Kein Italiener wurde wegen Verbrechen in Abessinien verurteilt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.05.2016)

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