Der brasilianische Machiavelli

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BRAZIL-ROUSSEFF-IMPEACHMENT-FEATUREAPA/AFP/NELSON ALMEIDA
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Gerissen und geschmeidig: Michel Temer bereitete sich auf die Ablöse von Präsidentin Rousseff vor.

Brasília. In Btaaboura freuten sich viele schon vor der Amtsenthebung von Dilma Rousseff darüber, dass ihr nun Brasiliens Vizepräsident folgen sollte. In jenem libanesischen Dorf, das seine katholische Familie 1925 verlassen hatte, wurde 2011 ein steiniger Weg nach dem mittlerweile mächtigsten Spross des Ortes benannt. Allerdings gab es Probleme mit der Orthografie. Auf dem schmucken Straßenschild steht „Rua Michel Tamer“. In Wirklichkeit heißt er Michel Temer. Und wahrscheinlich wird er für zunächst 180 Tage die Führung eines Staats übernehmen, der in der tiefsten Wirtschaftskrise seit 80 Jahren steckt.

Es ist eine Karriere mit langem Anlauf: Zunächst Anwalt und Rechtsprofessor, wechselte der inzwischen 75-Jährige in die Politik seines Heimatstaates São Paulo, als die Militärs Mitte der 1980er von der Macht ließen. Er fand seine politische Heimat in der Partido do Movimento Democrático Brasileiro (PMDB), einer Gruppe, die als „Alleskleber-Partei“ bezeichnet wird, der sich also jeder anschließen kann, der Machthunger und Skrupellosigkeit mitbringt. Obwohl seit Jahrzehnten eine der größten Gruppierungen, verzichtete die PMDB seit Mitte der 1990er auf die Nominierung eines eigenen Präsidentschaftskandidaten. Die dunklen Kapitel dieses Altruismus decken nun Ermittler des Korruptionsschemas um den Staatskonzern Petrobras auf.

Der Bruch mit Rousseff

Dabei gehört Parteichef Michel Temer noch nicht zu den über 50 direkt beschuldigten Politikern, wie etwa der kürzlich abgesetzte PMDB-Kongresschef, Eduardo Cunha. Seit 15 Jahren führte er die Partei aus Millionären, Großgrundbesitzern und anderen Establishment-Vertretern, was von großen politischen Fähigkeiten zeugt. Weil er den kapriziösen Betrieb zusammenhalten konnte, gilt er bei Industrie und Finanzwesen als Idealkandidat für eine überparteiliche Übergangsregierung, die das Land aus Polit-Paralyse und Rezession holt. Gerissen, geschmeidig und geduldig sind Adjektive, die nun in vielen Porträts auftauchen.

Während Rousseffs erster Regierung hielt er trotz Murrens in der PMDB der Präsidentin den Rücken frei. Doch als die Korruptionsermittlungen begannen und sich die Wirtschaftslage verschlechterte, schrieb Temer einen klagenden Brief an Rousseff, der „zufällig“ publik wurde. Er werde „wie das fünfte Rad am Wagen“ behandelt. Es kam der Bruch. Ende März verließ die PMDB die Regierung und stimmte Mitte April für Impeachment.

Der Vizepräsident sah das Spektakel im Fernsehen. Fotos zeigen ihn mit aufgekrempelten Ärmeln und breitem Lächeln. „Temer = Verräter“ steht nun auf Tafeln der Pro-Dilma-Demonstranten. Seine Unterstützter nennen ihn eher Polit-Profi.

Er gilt als einer, der es anders als Rousseff verstehen dürfte, Mehrheiten zu organisieren in dem Kongress aus über 30 Parteien. Beim Volk kommt Temer weniger positiv an. Wäre er Präsidentschaftskandidat, bekäme er Umfragen zufolge kaum mehr als zwei Prozent.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.05.2016)

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