Türkei. Der Flüchtlingsdeal könnte an der EU-Forderung nach einem neuen Antiterrorgesetz scheitern. Ankara droht die Schleusen zu öffnen.
Istanbul. Es ist ein Zusammenstoß, den viele Beteiligte kommen sehen: Der Flüchtlingsdeal zwischen der EU und der Türkei droht an Differenzen zwischen Brüssel und dem türkischen Präsidenten, RecepTayyip Erdoğan, zu zerbrechen. Erdoğan sucht die Machtprobe mit den Europäern und ist offenbar bereit, das Scheitern des Abkommens in Kauf zu nehmen.
Noch vor zwei Wochen schien alles auf bestem Wege zu sein. Der türkische Ministerpräsident, AhmetDavutoğlu, der den Deal im März mit der EU ausgehandelt hatte, machte im Parlament Druck, um die Kriterien der Europäer für die zugesagte Visumfreiheit im Juni zu erfüllen. Im Gegenzug für die Mitarbeit der Türkei bei der Reduzierung der Flüchtlingszahlen hatte die EU die Reisefreiheit für Türken im Schengen-Raum in Aussicht gestellt.
Visumfreies Reisen ist ein Traum für viele türkische Normalbürger, die derzeit viel Zeit, Geld und Nerven in eine europäische Reiseerlaubnis investieren müssen. Das Projekt war Teil von Davutoğlus Bemühungen, gegenüber dem übermächtigen Erdoğan an Profil zu gewinnen. Vergangene Woche wurde Davutoğlu deshalb von Erdoğan abgesägt. Seitdem schimpft der Präsident über die Europäer und über EU-Bedingungen für die Visumfreiheit.
Erdoğan tritt vor allem Forderungen der EU nach Änderung der türkischen Antiterrorgesetze entgegen. Diese werden unter anderem auf gewaltfreie politische Gegner Erdoğans wie die Anhänger des islamischen Predigers Fethullah Gülen angewandt. Die Türkei-Beauftragte der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch, Emma Sinclair-Webb, wirft Ankara vor, nur deshalb an den Gesetzen festhalten zu wollen, weil sonst Tausende von Strafprozessen gegen friedliche Regierungskritiker eingestellt werden müssten. Der Erdoğan-kritische Journalist Abdullah Bozkurt vermutet, dass es bei Erdoğans Widerstand nicht nur um die Antiterrorgesetze geht. Die EU verlange auch einen starken Kampf gegen die Korruption mit einer effizienten und unabhängigen neuen Behörde, schrieb Bozkurt auf Twitter. „Das wäre das Todesurteil für das korrupte Patronagesystem.“
Neuer Termin im Oktober
Außerdem will Erdoğan selbst jener Politiker sein, der den Türken die Visumfreiheit ermöglicht. Deshalb wischt der Präsident den Juni-Termin Davutoğlus vom Tisch und spricht nun von Oktober: Die EU habe ihm selbst die Umsetzung der Visumfreiheit zu diesem Zeitpunkt zugesagt, betont Erdoğan. Offenbar zählt er darauf, dass er im Herbst die Visumfreiheit ohne zusätzliche EU-Forderungen durchsetzen kann.
Für kritische Stimmen aus Europa halten Erdoğan und seine Gefolgsleute eine Antwort parat: Sollte die Visumfreiheit ausbleiben, „dann schicken wir die Flüchtlinge los“, warnte Erdoğans Berater Burhan Kuzu. Damit meint er vor allem das Europaparlament, das erst dann über die türkische Visumfreiheit entscheiden will, wenn Ankara alle Kriterien erfüllt hat.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.05.2016)