Brasilien: Präsidentin Rousseff muss gehen

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Kurz vor Olympia steht das 200-Millionen-Land vor einem Machtwechsel. Ihre Aufgaben wird ihr politischer Kontrahent, Vizepräsident Temer, übernehmen.

Staatspräsidentin Dilma Rousseff muss von ihrem Amt zurücktreten: Der brasilanische Senat hat mit 55 zu 22 Stimmen die Eröffnung eines Amtsenthebungsverfahrens gegen Präsidentin Dilma Rousseff beschlossen. Mit der Entscheidung wird die linke Politikerin mit sofortiger Wirkung für 180 Tage von ihrem Amt suspendiert. Ihre Aufgaben übernimmt ihr politischer Kontrahent, Vizepräsident Michel Temer. Das beschloss die Mehrheit der Senatoren nach einer mehrstündingen Marathon-Sitzung, die bis in die frühen Morgenstunden hinein ging.

Tricks zur Verschleierung der Haushaltslage

Der Präsidentin werden eigenmächtige Kreditvergaben und Bilanztricks zur Verschleierung der wahren Haushaltslage vorgeworfen. Die Regierung soll zum Beispiel die Überweisung von 3,5 Milliarden Reais (900 Millionen Euro) für ein Hilfsprogramm für Bauern bewusst verzögert haben, um das Defizit zu verringern - das haben aber auch schon Vorgängerregierungen gemacht.

Vorgeworfen werden ihr auchsechs Dekrete für milliardenschwere Kredite für staatliche Ausgaben, die ohne die Zustimmung des Kongresses erlassen worden sind. Doch ob wirklich Verbrechen gegen ihre Verantwortung als Präsidentinvorliegen, ist umstritten.

Rousseff weist die Vorwürfe zurück und spricht von einem "Putsch". Sie sei bis zum 31. Dezember 2018 gewählt, einen Rücktritt schließt sie aus.

In den 180 Tagen würden die Vorwürfe unter Beteiligung des Obersten Gerichtshofs geprüft. Dann müsste der Senat - dieses Mal mit einer Zweidrittelmehrheit - über eine endgültige Amtsenthebung entscheiden. Wird das Quorum verfehlt, würde Rousseff wieder das Amt übernehmen.

Vizepräsident als "Verräter"

Der 75-jährige Temer von der Partei der demokratischen Bewegung (PMDB), die die Koalition mit der linken Arbeiterpartei Rousseffs im März aufgekündigt hatte, traf sich bereits  während der Sitzung mit Vertrauten in seinem Amtssitz in Brasilia, dem Palacio do Jaburu, um den Wechsel vorzubereiten. Auch die neue "First Lady", seine Ehefrau Marcela (32), traf mit dem kleinen Sohn Michelzinho im Palast ein.

Rousseff (68) nannte Temer einen "Verräter", weil er ihren Sturz mit seiner Partei forciert hat.

Oberster Gerichtshof wies Einspruch zurück

Erstmals seit 2003 führt jetzt eine Regierung ohne Beteiligung der Arbeiterpartei das Land. Einen letzten Einspruch der Regierung gegen das Absetzungsverfahren wies der Oberste Gerichtshof des Landes am Mittwoch zurück.

Temer wird auch die Olympischen Spiele am 5. August in Rio eröffnen. Der bisherige, erst vor wenigen Wochen ernannte Sportminister Ricardo Leyser soll zur Wahrung von Kontinuität nicht abgelöst werden, ebenso wie Zentralbankchef Alexandre Tombini. Bisher gibt es 31 Ministerien, Temer will die Zahl verringern.

1992 erstmals Amtsenthebungsverfahren

Bisher gab es solch ein Amtsenthebungsverfahren in Brasilien erst einmal. 1992 wurde Fernando Collor de Mello nach Korruptionsvorwürfen für 180 Tage suspendiert - und trat Ende des Jahres schließlich selbst zurück.

Rousseff, seit 2011 an der Macht, war zuletzt eine Präsidentin ohne Fortune, mitunter aufbrausend, mit weniger Volksnähe und Charisma als ihr Vorgänger Luiz Inacio Lula da Silva. In dessen Amtszeit wuchs die Wirtschaft kräftig, auch dank der sprudelnden Öleinnahmen. Rund 40 Millionen Menschen seien dank Sozialprogrammen und Mindestlöhnen aus der Armut befreit worden, betont Rousseff. Nun ist das Land in einer tiefen Rezession, ein Korruptionsskandal aus Lulas Amtszeit hat Rousseff eingeholt, sie war damals Aufsichtratschefin des im Fokus stehenden Petrobras-Konzerns. Über elf Millionen sind arbeitslos.

Politische Handlungsunfähigkeit

Seit Wochen ist das Land wegen des Ringens um ihre Amtsenthebung politisch handlungsunfähig. Als sich die klare Zustimmung zu der Suspendierung Rousseffs abzeichnete, stieg der Kurs an der Börse in Sao Paulo und der Real gewann gegenüber dem Dollar, der Wechselkurs lag bei 1 zu 3,44 US-Dollar. Temer will mit Privatisierungen und Entlassungen im Staatsdienst das hohe Defizit in den Griff bekommen.

Mit umfassenden Reformen will er die kriselnde Wirtschaft ankurbeln, das Bruttoinlandsprodukt der bisher siebentgrößten Volkswirtschaft der Welt war 2015 um 3,8 Prozent eingebrochen, für dieses Jahr sieht es nicht besser aus. Der frühere Zentralbank-Chef Henrique Meirelles soll Finanzminister werden, zuletzt waren die Staatsanleihen von den Ratingagenturen auf Ramschniveau gesenkt worden. Umweltschützer befürchten mehr Regenwaldabholzungen. Temer will zum Beispiel den umstrittenen "Sojabaron" Blairo Maggi zum Agrarminister machen.

(APA/dpa)

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