Flüchtlinge: Merkel räumt Abhängigkeit von Türkei ein

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Erdogan: "Seit wann regiert ihr denn das Land?"REUTERS
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Mit dem Abkommen seien viele Menschenleben gerettet worden, sagt die deutsche Kanzlerin. Erdogan will im Streit um das Anti-Terror-Gesetz nicht nachgeben.

Die deutsche Kanzlerin Angela Merkel hat eine "Abhängigkeit" von der Türkei in Flüchtlingsfragen eingeräumt. Zugleich verwies sie jedoch auf die Menschenleben, die durch das seit März geltende EU-Abkommen mit Ankara gerettet worden waren. Seitdem hätten nur noch sieben Flüchtlinge ihr Leben in der Ägäis verloren, sagte Merkel am Donnerstag.

Die Kanzlerin betonte, dass lange Zeit Schmuggler und Schlepper bestimmt hätten, wer nach Europa komme und wer nicht. "Allein schon um die Menschenleben zu retten und nicht noch Leuten Geld in die Kasse zu spülen, lohnt eine solche Abmachung mit der Türkei", sagte die Kanzlerin.

In Hinblick auf ein Abhängigkeitsverhältnis mit Ankara betonte Merkel, Europa sei "eingebettet in eine Weltgemeinschaft" und könne sich nicht einfach abschotten. "Das müssen wir jetzt lernen - mit der Türkei, mit Libanon, mit Libyen, in Zusammenarbeit mit vielen afrikanischen Ländern." Die Türkei habe gefordert, dass man sich die Lasten von drei Millionen syrischen Bürgerkriegsflüchtlingen fairer aufteile als zuvor. Die EU unterstütze die Türkei daher mit Hilfsgeldern und mit freiwilligen Kontingenten.

Erdogan will Kriterien nicht anerkennen

Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan hat in der Sache am Donnerstag härtere Töne angeschlagen. Er will der Forderung der EU nach einer Änderung der türkischen Anti-Terror-Gesetze, nicht nachkommen. Gesetze, die in der EU als gerechtfertigt gelten, würden im Fall der Türkei abgelehnt, sagte Erdogan. "Ich sage offen, wie man das nennt: Heuchelei."

Erdogan bezichtigte die EU erneut, bei den 72 Kriterien für die Visafreiheit nachträglich draufgesattelt zu haben. "Seit wann regiert ihr denn das Land?" fragte er an die Europäer gerichtet. Zudem warf Erdogan der EU mit Blick auf Aktivitäten der verbotenen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) in Europa vor, eine "Terrororganisation" mit Geld zu versorgen und zu Aktionen gegen die Einheit der Türkei zu ermuntern.

Erdogan erkennt die Kriterien für die vom inzwischen zum Rücktritt gezwungenen Ministerpräsidenten Ahmet Davutoglu ausgehandelte Visafreiheit für türkische Bürger im Schengen-Raum ab Juni nicht an. Stattdessen besteht er darauf, dass die EU ihm selbst den Oktober als Termin für das Inkrafttreten der Visafreiheit zugesagt habe; anders als bei dem Juni-Termin ist aus Sicht Erdogans bei einer Visafreiheit im Oktober keine Änderung der türkischen Antiterror-Gesetze nötig.

Juncker: Notfalls keine Visafreiheit

Die EU kritisiert die türkischen Gesetze als zu vage: Sie könnten als Instrument gegen Kritiker der Regierung eingesetzt werden, meint die EU. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker drohte am Donnerstag, notfalls auf die angestrebte Visafreiheit für Türken in der EU zu verzichten. "Wir haben Bedingungen gestellt, was die Visafreiheit anbetrifft", sagte er. Er setze darauf, dass sich die Türkei an diese Bedingungen halte und sie erfülle.

"Wir legen größten Wert darauf, dass die Bedingungen, die Voraussetzungen erfüllt sind, sonst (...) wird das nicht stattfinden." Wenn die Türken keine Reisefreiheit in der EU genössen, sei das nicht sein Problem, sondern das des türkischen Präsidenten. Erpressen lasse er sich nicht, sagte Juncker. Er spielte damit auf Drohungen aus der Türkei an, notfalls wieder Flüchtlinge in Richtung EU durchzulassen.

Die Visafreiheit für türkische Bürger Ende Juni ist Bestandteil des Flüchtlingspaktes zwischen der EU und der Türkei vom März. Dieser sieht vor, dass die Türkei syrische Flüchtlinge zurücknimmt, die irregulär nach Griechenland gelangt sind. Im Gegenzug verpflichtet sich die EU, syrische Flüchtlinge aufzunehmen, die sich bereits zuvor in der Türkei aufhielten. Auch wurden Ankara milliardenschwere Beträge zur Betreuung von Flüchtlingen zugesagt.

(APA/AFP/Reuters/dpa)

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