Flüchtlinge: Erdoğans Erpressungspotenzial

Präsident Erdoğan bezeichnete den EU-Beitritt der Türkei als strategisches Ziel.
Präsident Erdoğan bezeichnete den EU-Beitritt der Türkei als strategisches Ziel.(c) REUTERS (MURAD SEZER)
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Der Präsident hat im Flüchtlingsdeal mit der EU die Oberhand. Der Konflikt um die Visumfreiheit für Türken spitzt sich nach dem Rücktritt des Premiers Ahmet Davutoğlu zu.

Wien/Ankara. Das Interregnum in der Türkei wird bis zur Wahl eines neuen Premiers beim Kongress der Regierungspartei AKP am 22. Mai, unmittelbar vor Beginn eines UN-Gipfels über Humanität in Istanbul, noch andauern. Der Platz des Premiers ist nach dem recht überraschenden Rücktritt Ahmet Davutoğlus de facto verwaist, Vizepremier Numan Kurtulmuş führt mehr oder weniger die Agenden.

Die Fäden zieht indessen Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der starke Mann des Landes. Mehr denn je bestimmt er auch wieder die Geschicke in der Europa-Politik, insbesondere im eskalierenden Konflikt um die Visumfreiheit. „Die EU braucht die Türkei mehr als die Türkei die EU“, lautet seine Devise, gemünzt vor allem auf die Flüchtlingskrise und den EU-Deal.

Naturschauspiel als Metapher

Wie in allen offiziellen Gebäuden des Landes prangt auch im Kabinettssitzungssaal des Vizepremiers ein Porträt Mustafa Kemal Atatürks, des gestrengen Staatsgründers. Kurtulmuş lässt bei einem Termin mit Auslandsjournalisten auf sich warten, derweil bereitet sein beinahe byzantinischer Hofstaat den Auftritt des Ex-Professors vor.

Über den weitläufigen, mit Zedern bepflanzten Komplex des Regierungschefs hoch über Ankara ziehen dunkle Wolken. Donnergrollen kündigt ein Gewitter an, Regen prasselt gegen die Fensterscheiben, ehe Minuten später die Sonne durchbricht. Als Numan Kurtulmuş den stickigen Raum betritt, umringt von seiner Entourage, öffnet er als Erstes selbst das Fenster. Das Naturschauspiel draußen ist quasi eine Metapher für die wechselhaften Beziehungen zwischen der Türkei und Europa und die jahrzehntelangen Ambitionen Ankaras für einen EU-Beitritt. Lang haben die Europäer die Türkei hingehalten, bevor das Land an der Schnittstelle zwischen Europa und Asien augenscheinlich das Interesse an Europa verloren hat. In Umfragen sprechen sich 60 Prozent der Türken mittlerweile gegen einen EU-Beitritt aus.

Währenddessen hat die Regierung Erdoğan unter dem außenpolitischen Mastermind Davutoğlu den Blick verstärkt auf die Nachbarstaaten und den Nahen Osten gerichtet. „Die Welt ist mehr als fünf“ kennzeichnet nach wie vor die außenpolitische Formel Erdoğans – soll heißen: Das Universum besteht aus mehr als den fünf Vetostaaten im UN-Sicherheitsrat.

Der Bruch mit Russland im Syrien-Konflikt wegen des Abschusses eines russischen Kampfjets, der Krieg mit der PKK in Südostanatolien und den Terrormilizen des sogenannten Islamischen Staats (IS), nicht zuletzt jedoch die Flüchtlingskrise haben die Türkei wieder stärker in die Arme der Europäer getrieben – und diese haben sie diesmal, diktiert vom Flüchtlingsdilemma, als Partner auf Augenhöhe mit offenen Armen empfangen. Im Außenministerium in Ankara gilt neuerdings das Motto „Europa braucht die Türkei, die Türkei braucht Europa“. Im Zypern-Konflikt, einer großen Hürde für einen EU-Betritt, hoffen die türkischen Diplomaten auf eine Beilegung bis Jahresende.

Vor allem Angela Merkel, einst deklarierte Bremserin der EU-Ambitionen Ankaras, hat in der Flüchtlingskrise die Türken als strategischen Partner entdeckt. Mehrmals reiste sie in die Türkei, um mit Erdoğan und insbesondere mit Davutoğlu ein Flüchtlingsabkommen festzuzurren. Mit Davutoğlu kam ihr freilich jüngst der verlässliche Gewährsmann just am Abend der Zustimmung der EU-Kommission zur Visumfreiheit für die Türkei abhanden – und schon spitzt sich der Konflikt mit Erdoğan zu.

Türkische Schleusenwärter

Der Präsident pocht auf Visumfreiheit im Rahmen des EU-Flüchtlingsdeals spätestens bis Herbst. „Sollte Europa eine falsche Entscheidung treffen, schicken wir die Flüchtlinge“, drohte neulich ein Erdoğan-Berater. Die Türken verstehen sich als „Schleusenwärter“ in der Flüchtlingspolitik. Merkel gab die Abhängigkeit gegenüber Ankara freimütig zu – und meinte das Erpressungspotenzial. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker will bei der Forderung nach einer Aufweichung der Antiterrorgesetze indes um kein Jota nachgeben.

Erdoğan höhnt über die Europäer: „Seit wann regiert ihr die Türkei?“ Die Zeichen stehen auf Konfrontation. Kurtulmuş und hochrangige Diplomaten lamentieren über „negative Propaganda“ und die „schlechte Presse“ im Westen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2016)

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