Brasilien: Megaprobleme für Männerkabinett

Interimspräsident Michel Temer.
Interimspräsident Michel Temer.(c) APA/AFP/EVARISTO SA
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Nach der Absetzung von Dilma Rousseff hat Interimspräsident Temer seine Regierung vorgestellt. Gewerkschafter sehen in der Riege ausschließlich weißer Männer eine Provokation.

Brasilia. Michel Temer hat keine Zeit zu verlieren. Am Freitagmorgen bestellte Brasiliens Interims-Präsident erstmals sein gesamtes Kabinett in den Palácio do Planalto, den er nur 20 Stunden zuvor nach der vorläufigen Absetzung von Präsidentin Dilma Rousseff übernommen hatte.

Die Herausforderungen, die sich vor Temer und seinem Kabinett aus 22 Männern (keine Frau und kein Schwarzer saßen am hufeisenförmigen Kabinettstisch) auftürmen, sind gigantisch. Das 200-Millionen-Einwohner-Land steckt in der tiefsten Wirtschaftskrise seit acht Jahrzehnten. Zwei Millionen Brasilianer haben 2015 ihre Arbeit verloren, insgesamt sind elf Millionen Menschen ohne Job. Trotz fast acht Prozent Rezession 2015 und 2016 steigen die Preise immer noch um jährlich zehn Prozent, im Haushalt 2016 klafft ein Loch von etwa 30 Milliarden Euro.

Temer muss die Staatsausgaben senken und die Einnahmen erhöhen. Dass er damit keine Begeisterung auslösen wird, dürfte dem Politveteranen klar sein. Nach der Absetzung Rousseffs hat er etwa drei Viertel aller Kongressabgeordneten hinter sich. Den Rückenwind will er nun für die zwei schwersten Brocken nutzen: eine Pensionsreform und massive Kürzungen der Staatsausgaben.

Erst die Kassa überprüfen

Brasilien leistet sich immer noch ein Pensionssystem ohne Eintrittsalter. Die Kosten dafür betragen zwölf Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nun soll ein Eintrittsalter irgendwann im siebten Lebensjahrzehnt festgelegt werden. Eine Reform war seit Jahren geplant, blieb aber stets im Kongress hängen. Zuletzt 2015.

Der neue Finanzminister, Henrique Meirelles (70), unter Rousseff-Vorgänger Lula da Silva als Zentralbankchef Stabilisator des Aufstiegs Brasiliens, kündigte an, schnell den Kassastand zu überprüfen. Der international renommierte Finanzexperte fürchtet böse Überraschungen. Dann will er unnötige Ausgaben des Staates abschaffen – seit der zweiten Amtszeit Lulas und vor allem unter Rousseff entwickelte sich in Brasilien ein chaotisches Subventionssystem. Nun, da die öffentlichen Schulden bereits höher sind als 70 Prozent des Bruttoinlandsprodukts, wollen Temer und Meirelles, der am Kabinettstisch ostentativ neben Temer Platz nahm, streichen, kürzen, reduzieren.

Vor der Amtsübernahme sagte Temer, er hoffe, ohne Steuererhöhungen über die Runden zu kommen. Nun hört sich das anders an. Meirelles, der sich noch nicht zu einzelnen Vorhaben äußern will, nannte „temporär erhobene Steuern“ als mögliches Instrument gegen die Haushaltslöcher.

Außerdem ist zu erwarten, dass Temer das Arbeitsrecht lockert. In 14 Jahren PT war der Arbeitnehmerschutz priorisiert worden. Der neue Superminister für Planung (also Wirtschaft und Infrastruktur), Romero Jucá, deutete an, die Regierung wolle die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen stärken, was auch das Arbeitsrecht einschließen dürfte. Jucá, bisher Senator für Temers Partei PMDB, ist einer von drei Ministern, deren Handeln von der Justiz untersucht wird. Sein Name kommt sowohl in den Korruptionsermittlungen rund um den Petrobras-Konzern als auch in der jüngeren Operation Zelotes vor: Dort geht es um gigantischen Steuerbetrug von mindestens 70 Großunternehmen.

Umstrittene Minister

Mehrere neue Minister sind umstritten. Justizminister Alexandre de Moraes war Sicherheitsstaatssekretär in São Paulo. Er hat Verfahren am Hals wegen übertriebener Polizeigewalt. Nach seiner Ernennung machte de Moraes deutlich, dass gewaltsame Proteste mit aller Härte beantwortet würden. Anti-Impeachment-Proteste zu Wochenanfang bezeichnete der neue Minister als „Guerillaakte“, und das massive Einschreiten der Sicherheitskräfte störe höchstens „zwei oder drei Journalisten“.

Temer hat seine Regierung als „Kabinett der Versöhnung“ präsentiert. Gewerkschafter, Landlose und andere Basisgruppen der Arbeiterpartei dürften Temers Ministerriege eher als Provokation für Proteste wahrnehmen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 14.05.2016)

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