Venezuelas Gesundheitssystem kollabiert

Venezuela's President Nicolas Maduro holds a copy of a newspaper as he speaks in front of images of South American hero Simon Bolivar during a news conference at Miraflores Palace in Caracas
Venezuela's President Nicolas Maduro holds a copy of a newspaper as he speaks in front of images of South American hero Simon Bolivar during a news conference at Miraflores Palace in CaracasREUTERS
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Präsident Maduro rühmt das Gesundheitswesen seines Landes. Doch die Realität sieht anders aus. Wegen fehlender Devisen und Milliardenschulden bei Arzneimittelherstellern gehen den Menschen die Medikamente aus.

Buenos Aires. Es war ein Donnerstag, als Yamaris Peña die letzte Lamotrigin-Pille aus der letzten Packung drückte und ihrem Sohn gab. Acht Tage später, Freitagmorgen um 1.15 Uhr starb der 14-jährige Maikel Mansilla, weil seine Atmung versagte. Mehr als hundert epileptische Anfälle hatte der Jugendliche von dem Moment an, als die Wirkung der Arznei nachließ, bis zu seinem Tod in einer Klinik, die ihn nicht kurieren konnte. Wochenlang schon hatten Yamaris Peña und ihre drei Schwestern im ganzen Land nach dem Krampflöser gesucht, hatten Hunderte Hilferufe über Facebook und Twitter versendet. Aber keine einzige Schachtel des Medikaments konnten sie auftreiben.

Als die Wirkung der letzten Tablette nachließ, bekam Maikel den ersten Anfall, drei Stunden danach den nächsten. Als die Attacken den schmächtigen Jungen im Stundenrhythmus durchschüttelten, brachte ihn die Familie schließlich in das Hospital Pérez Carreño, wo es kein geeignetes Medikament gab. Eine Ärztin empfahl der Familie, andere Krampflöser zu suchen. Durch viele Spitäler zogen Onkel und Tanten des Jungen in den folgenden Tagen und in den Nächten, wenn das Internet ein bisschen besser funktionierte, suchten sie via Facebook.

Brutkästen funktionieren nicht

Schließlich konnte Maikels Tante in der Industriestadt Valencia, 300 Kilometer westlich, drei Schachteln Epamin auftreiben. Genau eine Woche nach dem ersten Anfall bekam Maikel endlich eine Substanz, die seine Anfälle bremste. Doch sein Körper hatte zu sehr gelitten. Der Junge starb, um 1.15 Uhr der folgenden Nacht. Wer trägt die Verantwortung für Maikels Tod? Wer hat die Schuld, dass heute 100-mal mehr Neugeborene sterben als vor vier Jahren? Wem ist es zuzuschreiben, dass Brutkästen kalt bleiben, Röntgengeräte ausfallen und Dialysemaschinen versagen? Wer ist es, der den verzweifelten Ärzten und Pflegern Arzneien, Desinfektionsmittel und Schutzkleidung vorenthält, um Verletzte zu versorgen?

Venezuelas Präsident Nicolás Maduro beschuldigt in beinahe jeder seiner Reden dunkle Mächte, einen „ökonomischen Krieg“ gegen seine Bolivarische Republik zu führen. Also die Oligarchie, Privatindustrie, Opposition, kolumbianische Paramilitärs. Staaten wie Spanien und vor allem die USA. Oder ist Maikel Mansilla Opfer verfehlter Politik, desaströser Administration und entfesselter Korruption?

Sein Schicksal hatte sich abgezeichnet. Seit Mitte des Vorjahres hatte die Familie aus der Arbeitervorstadt Los Teques Schwierigkeiten, das Mittel aufzutreiben. Immer mehr Apotheken klapperten sie ab, seit Jahresanfang begannen sie, wie Millionen andere Venezolaner ihre Suche im Internet.

Schon in der traditionell besser versorgten Hauptstadt Caracas sind die Medikamentenregale leer, im Landesinneren sieht es weit schlimmer aus. Neun von zehn angefragten Arzneien seien nicht lieferbar, sagt der Apothekerverband. Von den 150 Medikamenten, die die Weltgesundheitsorganisation als unverzichtbar erachtet, waren schon im Jänner 70 Prozent vergriffen. Damals erklärte die neue Parlamentsmehrheit aus Regimegegnern einen Gesundheitsnotstand. Dieser würde es der Regierung erlauben, Hilfslieferungen aus dem Ausland zu akzeptieren. Doch Maduro verweigert das. Auf der ganzen Welt gebe es höchstens in Kuba ein Gesundheitssystem, das besser sei als das Venezuelas, behauptet er. Seine Gegner antworten mit Zahlen: Im ganzen Land gebe es nicht mehr als 300 funktionierende Intensivbetten.

Sicher ist: Venezuela hat Milliardenschulden bei Arzneimittelherstellern. Diese produzieren darum kaum noch, zudem fehlen nach dem Ölpreisverfall die Dollar für Importe. Weil nach einer langen Dürre regelmäßig der Strom ausfällt, gehen immer mehr sensible Apparate kaputt. Keiner kann sie reparieren, weil Ersatzteile fehlen.

Ein Krankenhaus als „Chimäre“

Als Earle Siso, Mediziner, Chavista und neu ernannter Gesundheitsdirektor für den Hauptstadtbezirk kürzlich das Hospital José Gregorio Hernández besichtigte, fasste er zusammen: „Das ist eine Klinik der obersten Versorgungsstufe ohne Radiologie, Labor, Intensivstation und Fachpersonal. Das hier ist kein Krankenhaus, das ist eine Chimäre!“ Mammografiegeräte waren abtransportiert worden, ebenso der Computertomograf. In der Blutbank lagerten 64 Blutpakete, die keiner verwenden kann, weil Reaktiva zur Blutgruppenbestimmung fehlen. Die Geheimpolizei tauchte auf, weil Labormitarbeiter mit anderen Kliniken angeblich Blutspenden gegen Röhrchen und Gummihandschuhe tauschen wollten. Auch diese sind Mangelware, ebenso wie Desinfektionsmittel, selbst an Chlor fehlt es.

Abgezweigte Medikamente

Schlamperei ist eine Ursache, Gier eine andere. Der Medikamentenmangel hat den Schwarzmarkt befeuert. In der Kinderabteilung des Krankenhauses der Hafenstadt Barcelona hängt ein handgeschriebener Zettel: „Wir verkaufen Antibiotika, Preise verhandelbar!“ Das heißt für viele: unbezahlbar.

Reporter der „New York Times“ trafen dort einen Vater an, der verzweifelt um das Leben seiner krebskranken Fünfjährigen kämpft. Er soll heute 16-mal mehr bezahlen als noch vor einem Jahr, für Mittel, die Chemotherapie unterstützen. Doch wahrscheinlich haben diese keinen Sinn, denn Zytostatika sind im Hospital Luis Razetti seit sechs Wochen aufgebraucht. Im April wurde der Klinikdirektor verhaftet, unter dem Vorwurf, Maschinen und 127 Kartons mit Medikamenten abgezweigt zu haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.05.2016)

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